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00:00:00: Kann man soziale Phänomene messbar machen? Lässt sich so etwas wie Religiosität tatsächlich messen? Oder ist das am Ende nur total vermessen?„Die Fakten dicke – der GESIS-Podcast“ nimmt euch mit in die Welt der Forschungsdaten. Dabei sind Dr. Sophie Zervos und Dr. Lydia Repke. Viel Spaß mit unserer Folge “Religiosität total vermessen! Konzeptspezifikation, Operationalisierung und Messung.”

00:00:37: Sophie: Liebe Hörerinnen und Hörer, herzlich willkommen! Hallo, Lydia!

00:00:41: Lydia: Hallo, Sophie! Auch von mir natürlich ein herzliches Willkommen an unsere Faktenfreunde.

00:00:47: Sophie: Ab heute wollen wir Euch mitnehmen in eine kleine Podcast-Serie bestehend aus mehreren kürzeren Folgen, die sich im weitesten Sinne mit dem Thema Messung, Vergleichbarkeit und Datenqualität beschäftigt. Klingt jetzt erstmal trocken, ist es aber dann gar nicht...

00:01:03: Lydia: Gar nicht! [lacht]

00:01:05: Sophie: ... weil wir das natürlich wie immer an vielen spannenden Beispielen erzählen werden.

00:01:08: Lydia: Heute knüpfen wir uns erstmal das Thema Religiosität vor und stellen die Frage, wie Religiosität gemessen werden kann. Und dazu habe ich auch gleich mal eine Frage an dich, liebe Sophie. Hast du dich denn heute schonmal auf die Waage gestellt und dein Gewicht gemessen?

00:01:26: Sophie: Mein Gott, Lydia, du stellst ja Fragen! Aber nein, heute Morgen habe ich mich noch nicht gewogen.

00:01:34: Lydia: Also mit Gott – wie der Berliner jetzt sagen würde – hat das jetzt erstmal noch gar nichts zu tun, auch wenn wir wie gesagt gleich noch etwas religiös werden wollen.

00:01:44: Sophie: Gott hin oder her, ich meinte, dass ich mich nicht täglich wiege. Das wäre ja auch viel zu frustrierend.

00:01:50: Lydia: Ach was, so schlimm ist das bestimmt nicht. Du weißt doch, die Waage misst gar nicht dein Gewicht. Du kannst also ganz beruhigt sein.

00:01:59: Sophie: Ja, das stimmt! Das fand ich übrigens eine wirklich bemerkenswerte Erkenntnis bei der Recherche zum Thema Messen für diese Folge. Nämlich die Tatsache, dass man zum Beispiel auf einer Waage gar nicht sein Gewicht misst, sondern etwas ganz anderes, nämlich die Gewichtskraft im Schwerefeld der Erde.

00:02:15: Lydia: Ja, darüber hatte ich so auch noch nicht nachgedacht. Und trotzdem ist es natürlich so, dass uns die Physik (oder die Waage, in dem Fall) einfach mal vorgaukelt, sie würde die Masse in Kilogramm messen und nicht die Gewichtskraft.

00:02:28: Sophie: Tja, wer hätte das gedacht, dass in der Physik etwas scheinbar so Eindeutiges wie das Gewicht gar nicht so einfach zu messen ist. Wer denkt denn schon, dass es sich dabei um ein Konstrukt handelt?

00:02:39: Lydia: Das ist jetzt natürlich aus sozialwissenschaftlicher Sicht irgendwie beruhigend. Denn da haben wir es ja andauernd mit nicht direkt beobachtbaren bzw. nicht direkt messbaren Konstrukten zu tun.

00:02:51: Sophie: Ja, aber nun geht man mal allgemein von den Naturwissenschaften ja... äh, nimmt man ja immer an, die würden alles ganz genau messen und in den Sozialwissenschaften wäre alles nur so „Pi mal Daumen“.

00:03:02: Lydia: Dabei gibt es in den Na... äh in den Naturwissenschafen (ich wollte gerade sagen in den Sozialwissenschaften) – also in den Naturwissenschaften natrlürlich genauso wie in den empirischen Sozialwissenschaften erstmal Messfehler.

00:03:13: Sophie: Ja, das kommt wahrscheinlich daher, dass wir dem Faktor Mensch eine stärkere Unberechenbarkeit unterstellen als der Natur.

00:03:20: Lydia: Ja, möglich. Dennoch gibt es ja logischerweise auch überall in der Natur Schwankungen und Störungen, und die müssen ja zwangsläufig zu Messfehlern führen.

00:03:31: Sophie: Und deshalb stimmt auch der gemessene Wert praktisch nie mit dem wahren Wert des Gemessenen überein. Die Physiker*in ergänzt deshalb für ein vollständiges Messergebnis auch den gemessenen Wert um eine zu erwartende Messabweichung. Und mal im Ernst, ist die Natur so viel berechenbarer als der Mensch, oder scheint das nur so?

00:03:50: Lydia: Gute Frage. Also in den Sozialwissenschaften versuchen wir den Menschen ja oft mithilfe von Umfragen messbar zu machen.

00:04:00: Sophie: Das heißt, man befragt systematisch eine bestimmte Anzahl von Personen mithilfe von Fragebögen zu ihren Einstellungen, Meinungen und Verhaltensweisen. Und wie die Waage das Messinstrument für das Gewicht in der Physik ist, ist die Frage eines der wichtigsten Messinstrumente in den Sozialwissenschaften.

00:04:17: Lydia: Wenn wir mit systematischen Fragen – also unseren Messinstrumenten – jetzt etwas beobachten, also messen, dann können wir das wie in der Physik nicht mit 100%-iger Korrektheit tun. Es tritt immer ein sogenannter Messfehler auf. Und der ist mal größer und mal kleiner, aber prinzipiell bedeutet er, dass wir nie den wahren Wert erfassen können.

00:04:37: Sophie: Wir stellen, wie schon so oft fest, dass das mit der Wahrheit ja doch eher ein abstraktes Ideal bleibt.

00:04:44: Lydia: Na, dann lass uns mal konkret werden, liebe Sophie. Nehmen wir mal mögliche Messfehler am Beispiel von Religiosität. Wenn ich jetzt nun dich, Sophie, oder euch, lieber Zuhörer*innen, in einer Umfrage nach eurer Religiosität befrage, dann müsst ihr zuerst mal euch diese Frage, die ich euch stelle, kognitiv vorstellen und verarbeiten – das heißt also, diese Frage überhaupt erst einmal verstehen. Und wenn ich euch dann in einem zweiten Schritt bitte, eure Einschätzung auf einer vorgegebenen Antwortskala – sagen wir jetzt mal von 0 bis 10 oder so – einzuordnen, dann passiert ja im Grunde nichts anderes, als dass ihr eure Einschätzung in einen Zahlenwert auf dieser Skala übersetzen müsst, oder übertragen müsst. Das heißt also, euer persönlich wahrer Wert (der ja im tatsächlichen Leben gar keinen Zahlenwert besitzt oder hat), der bekommt dann einen spezifischen Wert zugeschrieben.

00:05:46: Sophie: Ja, und das allein ist ja schon erstmal eine Herausforderung an sich. Zumindest geht es mir so, dass ich es oft schwer finde, eine Antwort in eine Zahlenskala zu übersetzen. Und da das nicht nur mir so geht, und unterschiedliche Menschen auch unterschiedliche Vorstellungen von Zahlengrößen haben, kann die, ich nenne es jetzt mal „Antwort in Zahlen“, ungenau oder eben fehlerbehaftet sein. Zum Beispiel, weil ich aus Versehen als Zahlenwert eine 7 angekreuzt habe, aber vielleicht eigentlich eine 8 meinte.

00:06:20: Lydia: Das nennt man dann Zufallsfehler. Es gibt aber noch einen weiteren wichtigen Fehler in der Messtheorie. Es könnte nämlich zum Beispiel sein, dass unsere Zuhörer möglicherweise die Antwortskala anders verstehen als unsere Zuhörerinnen sie verstehen würden. Und das hieße dann, dass Männer und Frauen systematisch unterschiedlich auf die Frage antworten würden, ohne dass es inhaltlich eigentlich einen Unterschied im Religiositätslevel von Männern und Frauen geben müsste. Man spricht dann in so einem Fall von einem systematischen Fehler.

00:06:52: Sophie: Ja, aber natürlich würde man auch nie so direkt nach der Religiosität fragen, weil ja gar nicht klar ist, was damit genau gemeint ist. Vermutlich haben viele Menschen eine ganz unterschiedliche Vorstellung davon, was Religiosität ist.

00:07:07: Lydia: Hauptsache, die Forschenden sind sich da einig! [lacht] Aber genau deshalb muss man sein Konzept, also das, was man messen will (also in dem Beispiel Religiosität jetzt), erstmal ganz genau definieren – also sprich spezifizieren – und sich überlegen, wie man dann den Begriff messbar bzw. operabel macht, bevor es an das eigentlich Messen geht, also an die Befragung der Studienteilnehmer*innen.

00:07:31: Sophie: Ja, lass uns das mal am Beispiel der Religiosität durchgehen. Da freue ich mich nämlich schon die ganze Zeit drauf, weil das nämlich nicht nur methodisch, sondern auch auf der Inhaltsebene total interessant ist [lacht].

00:07:42: Lydia: Hört, hört! Sophie ist mittlerweile methodisch begeistert! Das freut mich! Also, genau. Religiosität lässt sich als Konzept tatsächlich ganz unterschiedlich spezifizieren. Und es gibt, um das hier jetzt aber auch nochmal zu betonen, tatsächlich aber auch etablierte Standards. Und dazu haben wir uns mit unserem Kollegen Pascal Siegers unterhalten. Er ist der Leiter des Forschungsdatenzentrums des ALLBUS, also der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften. Und Pascal forscht u. a. zum religiösen Wandel in Europa.

00:08:21: Sophie: Und von ihm wollten wir wissen, wie man das Konzept Religiosität spezifizieren kann. Und das hat er uns dazu erzählt.

00:08:28: Pascal Siegers: Religiosität ist ein vielschichtiges Konzept und es gibt sehr viele verschiedene Arten und Weisen so eine Konzeptspezifikation durchzuführen. Es gibt allerdings unterschiedlich einflussreiche, die in der Literatur parallel existieren, und eine der bekanntesten ist das dimensionale Konzept nach Glock, das schon aus den 60er Jahren stammt. Das Konzept ist interessant, weil es zeigt, dass man sehr differenziert erfassen kann, und das auch in verschiedenen religiösen Traditionen ohne weiteres umsetzen kann. Glock unterscheidet mindestens vier Dimensionen von Religiosität: Die religiöse Praxis oder das religiöse Ritual, religiöses Wissen, also die Kognition, was weiß ich über meinen Glauben oder über den Glauben von anderen, dann den religiösen Glauben selbst, auch Ideologie genannt, aber eigentlich passt das nicht besonders gut begrifflich, und die religiöse Erfahrung. Und diese verschiedenen Dimensionen können wiederum etwas aufgesplittet werden in der Messung. Zum Beispiel bei der religiösen Praxis unterscheidet man die öffentliche Praxis, wie Kirchgang zum Beispiel, und die ganz private Praxis, wenn jemand zum Beispiel betet, zu Hause ganz für sich allein. Und dieses Konzept ist sehr einflussreich. Man findet das in der Literatur immer wieder bis heute, dass die Messung von Religiosität sich an diesen Dimensionen orientiert, wobei die Messinstrumente natürlich weiterentwickelt und aktualisiert worden sind.

00:09:47: Sophie: Pascal hat uns da im Gespräch ja ein sehr etabliertes Konzept vorgestellt. Da zeigt sich – wieder mal – dass man das Rad auch nicht immer ganz neu erfinden muss, sondern viele ältere Überlegungen bis heute nicht an Aktualität verloren haben. Die vier Dimensionen von Religiosität, die Glock umrissen hat, wie Pascal das gerade vorgestellt hat, spannen ja auch schon einen ziemlich weiten Bogen. Ich fasse das hier also nochmal kurz zusammen. Also, erstens gibt es die religiöse Praxis bzw. das religiöse Ritual, dann zweitens die Kognition, d.h. das Wissen über den Glauben, drittens den religiösen Glauben selbst bzw. die Ideologie, und schließlich viertens die religiöse Erfahrung.

00:10:31: Lydia: Auf Nachfrage hin hat Pascal uns dann auch noch erklärt, weshalb der Begriff der Ideologie als Alternative zu religiösem Glauben problematisch ist. Und zwar nämlich weil das Ganze dann gleich sehr stark an politische Ideologien erinnert. Weil bei politischen Ideologien wäre es so, dass immer gewisse normative Handlungen bzw. die Verbesserung der Welt mitklängen, während bei religiösem Glauben tatsächlich Glaubensinhalte im Vordergrund stünden, also eher Sachen, die man noch nie gesehen hat und von denen man einfach glaubt oder annimmt, dass sie existierten.

00:11:10: Sophie: Genau das ist ja das Interessante an der Vermessung von Religiosität. Der Glaube ist ja gar nichts real Existierendes in dem Sinne, dass er kein Objekt ist. Sondern Glaube ist ja etwas Metaphysisches, er manifestiert sich als Vorstellung und dann natürlich auch als menschliche Praxis.

00:11:27: Lydia: Und genau deshalb haben wir uns von Pascal noch erzählen lassen, wie man denn nun Religiosität handhabbar, also operabel, machen kann.

00:11:38: Sophie: Konkret haben wir ihn gefragt, wie das im Fragenkatalog des ALLBUS umgesetzt wird.

00:11:44: Lydia: Hier nochmal so zum Hintergrund. Der ALLBUS, der bietet sich hier jetzt natürlich besonders gut an, weil er seit 1980 alle zwei Jahre durchgeführt wird und damit längsschnittlich Einstellungen, Verhaltensweisen, aber auch Sozialstrukturen der Bevölkerung Deutschlands abbildet. Und dadurch kann man Trends über eine längere Zeitreihe aufzeigen. Und genau deshalb bietet sich hier also so ein standardisiertes, äh, oder so eine Art standardisierte Messweise für Religiosität besonders an.

00:12:17: Sophie: Genau! Und das hat uns Pascal dann dazu erzählt.

00:12:21: Pascal Siegers: Bei der Operationalisierung von Religiosität im ALLBUS orientieren wir uns genau an diesem Konzept der vier religiösen Dimensionen von Glock. Und da nehmen wir sehr konkrete Fragen nach den typischen christlichen Glaubenselementen, wie z. B. der Kirchgangshäufigkeit, der Häufigkeit von Gebeten, aber auch nach religiöser Erfahrung, nach Gotteserfahrung. Das ist ein Item, das gar nicht so oft verwendet worden ist. Und natürlich ganz wichtig, eine differenzierte Erfassung der Glaubensinhalte, weil uns natürlich auch interessiert, nicht nur ob die Leute an Gott glauben, sondern auch welches Gottesbild sie haben, weil das ganz wichtig ist für das tiefere Verständnis der Religiosität. Und das Besondere an dem Religionsmodul im ALLBUS ist, dass diese Fragen in diesen vier Dimensionen nicht nur an der christlichen Tradition orientiert erhoben werden, also mit typischen kirchlichen Fragen, sondern versucht wird, auch neue religiöse Strömungen außerhalb der christlichen Kirchen aufzugreifen. Ich meine damit nicht unbedingt den Islam, sondern ich meine in erster Linie Formen, die aus der Individualisierung des religiösen Feldes hervorgegangen sind. Indem ich zum Beispiel frage, ob die Leute nicht nur beten, sondern auch meditieren, ob sie sich gewisse fernöstliche Körpertechniken angeeignet haben, wie Yoga, Reiki, Ayurveda. Ob sie ein Gottesbild haben, das vielleicht viel abstrakter ist, viel unpersönlicher als das Gottesbild der christlichen Kirchen. Und es zeigt sich in den Daten auch, dass es eine gewisse Unschärfe gibt bei dem Übergang zwischen christlichen Glaubenslehren und dem tatsächlichen Glauben der Bevölkerung. Und dass relativ viele Leute, die nicht mehr so nah an den Kirchen leben, solche neureligiösen Glaubenssätze übernommen haben, das heißt nicht im strikten Sinne Atheisten sind, aber auch keine richtigen, in Anführungsstrichen, Christen mehr aus theologischer Perspektive. Und das kann man mit dem Messinstrument im ALLBUS sehr gut machen.

00:14:12: Sophie: Wenn man Pascal so zuhört, wird einem schnell klar, dass die Erfassung von Religiosität ziemlich komplex ist, gerade auch wenn man nicht nur eine Glaubensrichtung untersuchen will.

00:14:22: Lydia: Und nicht nur die Vielzahl der Glaubensrichtungen und –praktiken führt zu Komplexität, sondern tatsächlich auch die Tatsache, dass ja nicht zwangsläufig immer mit ein- und demselben Konzept gearbeitet wird. Das von Glock ist ja nur eine von verschiedenen Möglichkeiten. Tatsächlich könnte man auch durchaus mit einer anderen Konzeptspezifikation an die Sache herangehen.

00:14:47: Sophie: Und da wär‘ natürlich auch interessant zu sehen, ob man mit einer anderen Operationalisierung des Konzepts zu den gleichen oder zumindest zu ähnlichen Messergebnissen kommen würde.

00:14:58: Lydia: Dazu haben wir Pascal natürlich auch befragt. Aber erstmal wollten wir von ihm wissen, was es noch für denkbare Operationalisierungen von Religiosität gibt.

00:15:07: Pascal Siegers: Alternativen gibt es natürlich in der Forschung. Wir haben in der Bundesrepublik einige Datenquellen, die noch viel differenziertere Erfassungen erlauben, zum Beispiel den Religionsmonitor von der Bertelsmann Stiftung, wo ganz viele Fragen nach Glaubensinhalten drin sind, die noch stärker differenzieren zwischen dem, was möglicherweise christlich ist oder ein allgemein theistisches oder ein sogenanntes panentheistisches Gottesbild, also dass man sozusagen die Vorstellung hat, dass alles im Kosmos eins ist. Grundsätzlich ist es aber so, dass jede Befragung, jede Messung von Religiosität, sich überlegen muss, was sind die theoretisch wichtigen Elemente, weil es eben auch noch ganz viele andere Möglichkeiten gibt, Religiosität zu konzeptionalisieren. Zum Beispiel kann man viel stärker abheben auf die Stärke oder Schwäche von Religiosität und nicht so stark auf, sozusagen, ein Panorama möglicher religiöser Orientierungen. Man kann auf religiöse Stile abheben – Stichwort Fundamentalismus. Das ist im Grunde genommen etwas, was ich erst differenzieren kann von normaler Religiosität in Anführungsstrichen, wenn ich weiß, dass die Leute eine besondere Ausrichtung haben, ihre Religiosität zu leben. Wenn ich ganz einfache Indikatoren nehme wie den Kirchgang, bekomme ich einen Fundamentalisten von einem, sagen wir, frommen Christen ja gar nicht unterschieden. Erst wenn ich die eigene Interpretation der Religiosität in den Fragen abbilde, kann ich das machen. Ein Beispiel wäre z. B. für Fundamentalismus-Skalen, dass die Leute ihren Glauben wörtlich nehmen, ja, also nicht interpretieren die Bibel, sondern sie wörtlich nehmen und damit sehr viele Spielräume in der Anpassung an die heutige Welt wegfallen. Eine andere Differenzierung, die auch sehr wichtig ist in der Literatur, sind die Motive, religiös zu sein. Ganz berühmt ist die Unterscheidung zwischen intrinsischer und extrinsischer Religiosität. Extrinsisch ist, wenn ich etwas dafür bekomme, dass ich religiös bin, eine Gratifikation – zum Beispiel soziale Kontakte, zum Beispiel sozialen Status. Intrinsische Religiosität im Gegenteil dazu ist, wenn ich mich komplett orientiere an den Glaubensinhalten, um mein Leben auszurichten. Und das macht einen großen Unterschied natürlich dann auch in den Zusammenhängen, die sich ergeben zwischen Religiositätsmessung und Einstellungen oder Verhaltensvariablen.

00:17:22: Sophie: Wir können festhalten, Religiosität ist ein sehr vielschichtiges Konzept, das man wahrscheinlich ewig in alle Richtungen ausweiten könnte. Gerade das, was Pascal am Schluss gesagt hat, zur extrinsischen und intrinsischen Motivation von Glauben, fand ich jetzt sehr aufschlussreich. Das unterscheidet dann vermutlich maßgeblich den Sonntagskirchgänger vom Fundamentalisten, wenn man jetzt so ein drastisches Beispiel heranziehen will.

00:17:50: Lydia: Spannend ist jetzt natürlich, welche Auswirkungen diese unterschiedlichen Messherangehensweisen auf die Ergebnisse im Endeffekt haben.

00:17:58: Sophie: Und das haben wir natürlich auch wieder Pascal gefragt, bitte schön.

00:18:01: Pascal Siegers: Ein gutes Beispiel dafür, wo die Ergebnisse unterschiedlicher Indikatoren auseinanderfallen, ist, wenn man sich im Aggregat Kirchgangshäufigkeit und Konfessionsmitgliedschaft anguckt. Wenn ich zum Beispiel in skandinavischen Ländern sehe, da sind 80 % Kirchenmitglied, aber es geht fast niemand mehr in die Kirche. Trotzdem würde ich, wenn ich nur diese Konfessionsmitgliedschaft angucke, die meisten skandinavischen Länder als hochreligiöse Länder klassifizieren – wenn ich sie aber nach Religionsindikatoren betrachte, dann sind es total säkulare Staaten. Das heißt, man muss immer genau wissen, wonach man sucht. Ein anderes Beispiel ist auch noch viel stärker in der Messung von Religiosität und ihren Motiven begründet. Ich konnte zum Beispiel in einer Studie vor kurzem zeigen, dass der Zusammenhang zwischen Einstellungsvariablen und Religiosität unheimlich stark davon abhängt, wie stark die intrinsische Komponente von Religiosität ist. Je intrinsischer Religiosität motiviert ist, umso stärker gibt es eine Kongruenz – eine Überlappung – zwischen den Lehren der religiösen Gemeinschaften und dem Handeln der Menschen. Weil nämlich dann, wenn sie ihr Leben nach ihrer Religiosität ausrichten, die Botschaft der Religiosität für das Handeln relevant ist. Wenn sie sich aber danach ausrichten, ob sie dafür eine Gratifikation bekommen, religiös zu sein, dann ist diese Botschaft auch nicht so wichtig. Das ist etwas, was noch mal verdeutlicht, wie wichtig es ist, genau zu überlegen, welche Konzepte man in der Messung braucht, um seine Forschungsfragen zu beantworten.

00:19:25: Sophie: Schau mal, Lydia, Pascal betont das genauso stark, wie wir das immer tun.

00:19:28: Lydia: Und das zu Recht! [lacht]

00:19:30: Sophie: Ja! [lacht]

00:19:31: Lydia: Wir können nicht einfach darauf losfragen und irgendwas messen. Wir sind natürlich verpflichtet, das mit klaren, handwerklich akzeptierten Verfahren zu tun. Denn die Datengewinnung ist schließlich das O und A von empirischer Wissenschaft.

00:19:45: Sophie: Ja! A und O, meintest du wohl! [Lacht)

00:19:47: Lydia: Oder das... Okay, ich gebe mich geschlagen! [lacht] Also, ohne gute Datengrundlage – und der geht ja die Ausarbeitung von Konzept und Co voraus – ist auch keine gute Statistik möglich. Das könnte uns jetzt bestimmt auch Matthias Sand aus Folge, ich weiß nicht, Folge 3 oder so, bestimmt bestätigen – oder Folge 2? Denn ähm... Genau, und wenn dem so ist, dann kann natürlich auch eine Studie im Endeffekt gar nicht mehr überzeugen.

00:20:15: Sophie: Jetzt stelle ich mir vor, dass ich als vermeintlich gute Katholikin, mit kathotot... [verhaspelt sich], da siehst du schon, da fängt es schon an, mit katholisch getauften Kindern in katholischen Bildungseinrichtungen einen solchen Fragebogen ausfüllen sollte und so meine Religiosität vermessen werden würde. Also ich sag mal, intrinsische Motivation 0, Praxis 0, ganz zu schweigen von meinem metaphysischen Zustand [lachen]... Dann kommt dann am Ende doch glatt raus, dass es mit meiner Religiosität dann doch nicht wirklich weit her ist.

00:20:50: Lydia: Da siehst du mal. Nicht überall, wo Katholikin draufsteht, ist auch Katholikin drin! [lacht]

00:20:58: Sophie: Ja, danke! [lacht] Damit wäre dann ja wohl alles gesagt, Lydia. [lachen] Also, dann bleibt uns jetzt nur noch, uns von unseren Hörerinnen und Hörern zu verabschieden.

00:21:08: Lydia: Wir bedanken uns bei euch fürs Zuhören, bei unserem Gast Pascal Siegers, bei Emma Link, Linna Umme und natürlich Claudia O’Donovan-Bellante für die technische Unterstützung.

00:21:18: Sophie: So, liebe Faktenfreunde, wir hoffen, es hat Euch genauso begeistert, wie uns, zu erfahren, auf welche doch sehr konkrete Art und Weise man etwas so total Abstraktes wie Religiosität konzeptionalisieren und dann auch tatsächlich messen kann.

00:21:32: Lydia: Genau, aber nicht vergessen – immer strikt nach Fahrplan! [Lacht]

00:21:35: Sophie: Düt düt!

00:21:36: Lydia: Ich komm mir jetzt ein bisschen vor wie Lauterbach.

00:21:39: Sophie: Düt düt!

00:21:40: Lydia: Also, Konzept spezifizieren, operationalisieren, und dann erst messen. Das alles ist auch nochmal in unserem Begleitmaterial zur Folge auf podcast.gesis.org zu finden. Dort erfahrt ihr auch, wie bzw. wo ihr an die ALLBUS-Daten rankommt und bekommt Links zu interessanten Artikeln sowie Informationen zu unserem diesmaligen Gast Pascal.

00:22:05: Sophie: Noch ein Tipp, falls ihr selbst mal eine Umfrage plant: Ihr findet weitere Messinstrumente rund um das Thema „Einstellungen zu Religion und Kultur“, aber auch noch ganz andere, auf zis.gesis.org. Also, ZIS (Z-I-S) steht für die „Zusammenstellung sozialwissenschaftlicher Items und Skalen“, und das ist ein Open-Access-Repositorium für sozial- und verhaltenswissenschaftliche Messinstrumente.

00:22:32: Lydia: Das kann man übrigens super durchforsten, wenn man auf der Suche nach Skalen und Items für seine eigene Forschung ist.

00:22:39: Sophie: Ach ja, Lydia, und das wollte ich auch noch sagen. Ein bisschen Genugtuung empfinde ich ja auch über die Tatsache, dass auch die Physiker*innen sich mit Messabweichungen rumschlagen müssen [lacht].

00:22:49: Lydia: Stimmt. Das ist jetzt vielleicht nochmal ein guter abschließender Hinweis. Denn dann muss ich diese Feiertage über die Anzeige meiner Waage vielleicht auch nicht allzu ernst nehmen [lacht].

00:22:59: Sophie: Wie gut, wie gut! So, jetzt wünschen wir euch allen schöne Feiertage! Kommt gut ins neue Jahr und nutzt die freie Zeit, um gemütlich bei Glühwein und Plätzchen (und ganz ohne Waage natürlich!) in die anderen Folgen von “Die Fakten dicke” reinzuhören! Ihr findet uns auf allen gängigen Streaming-Plattformen... tschüss! [lacht]

00:23:24: Lydia: Also, in diesem Sinne dann bis zur nächsten Folge, liebe Faktenfreunde! Ciao!

00:23:28: Sophie: Ciao ciao!