Transkript
00:00:00: Habt ihr euch schon mal gefragt, was Bildung eigentlich genau ist? Spielt der soziale Hintergrund dabei heute überhaupt noch eine Rolle? Und wie sieht das jetzt eigentlich alles während der Pandemie aus? „Die Fakten dicke – der GESIS-Podcast“ nimmt euch mit in die Welt der Forschungsdaten. Dabei sind Dr. Sophie Zervos und Dr. Lydia Repke. Viel Spaß mit unserer Folge „Gedisst wie? Bildungsungleichheit in Deutschland.“
00:00:38: Sophie: Liebe Faktenfreunde, herzlich willkommen bei unserer neuen Folge von “Die Fakten dicke!” Schön, dass ihr wieder rein hört. Geht es euch wie mir? Endlich ist der Sommer da. Und der wird ja gut.
00:00:49: Lydia: Aber mit Einschränkungen, Frau Zervos! [tiefe Stimme]
00:00:52: Sophie: [Singt] Der Sommer, der Sommer, der Sommer, er wird guhut... Also meine Laune steigt jedenfalls, Lydia! Hallo, wie geht‘s dir? Ich hoffe, bei dir ist die Laune auch sonnig?
00:01:04: Lydia: Ja, alles paletti bei mir, Sophie! Der Ventilator läuft auf Hochtouren und das Wasserspray ist gezückt [sprüht]. Hallo liebe Faktenfreunde!
00:01:16: Sophie: [Lacht] Unser Podcast reiht sich in dieser Folge ein in die Themenwochen der Kölner Wissenschaftsrunde. In der Wissenschaftsrunde geht es um Vernetzung der Kölner Wissensein... Wissenschaftseinrichtungen untereinander, aber auch mit der Wirtschaft und mit den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt – und an dieser Stelle natürlich auch mit den Faktenfreunden! Die diesjährigen Themenwochen nehmen – wie könnte es auch anders sein – die Pandemie in den Blick. “Das neue Normal” ist die thematisch übergeordnete Klammer. Inhaltlich geht es um die veränderten Lebens- und Arbeitsbedingungen während der Pandemie und die Frage, welche Chancen und Risiken diese für die Zeit in, aber eben auch insbesondere nach der Pandemie bergen.
00:02:00: Lydia: ... und da haben wir uns gedacht: Wir knüpfen uns mal das Thema Bildung und Bildungsungleichheit vor. Also: Was kann man unter Bildung verstehen, wie kann man Bildung messen und welche Faktoren beeinflussen Bildung vor allem jetzt während der Corona-Pandemie?
00:02:16: Sophie: Momentan wird ja viel darüber diskutiert, wie und auch wie stark die politischen Maßnahmen sich konkret auf die Bildung junger Menschen auswirken. Ich nenne hier nur mal die Begriffe “Homeschooling” und “digitaler Unterricht”, ganz zu schweigen von der monatelangen Schließung von Kultureinrichtungen wie den Museen, Theatern, Konzertsälen und, und, und...
00:02:37: Lydia: Ja, es gibt echt viel, was man so mit Bildung assoziiert, von der formalen bis hin zur kulturellen Bildung. An sich ein wirklich total vielschichtiger Begriff.
00:02:47: Sophie: Genau. Dann lass uns mal direkt in medias res gehen und den begrifflichen Rahmen von Bildung abstecken.
00:02:54: Lydia: Also ab in die Mitte! Du traust dich ja was... [lacht]
00:02:57: Sophie: [Lacht] Ja, da hast du recht, denn zunächst muss man leider festhalten, dass es in der empirischen Forschung keine Einigkeit darüber gibt, wie Bildung zu konzeptionalisieren ist, da gibt es je nach Schule und Fragestellung ganz unterschiedliche Ansätze. In den sechziger Jahren haben sich beispielsweise zwei theoretische Strömungen zu den Sozialisationseffekten von Bildung entwickelt. Der bekannteste Ansatz ist die mikroökonomische Theorie des Humankapitals von Becker...
00:03:26: Lydia: Seeehr schöner Begriff!
00:03:28: Sophie: ... der Bildung in den Kontext von Produktivitätssteigerung – noch so ein schöner Begriff – stellt. Er versteht Bildung als die Aneignung von Wissen, Kompetenzen, Werten und Einstellungen, die es dem Menschen ermöglichen, seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt und insbesondere auch sein späteres Gehalt zu verbessern.
00:03:49: Lydia: Yaaay!
00:03:50: Sophie: [Lacht] Und demgegenüber steht die Konzeptualisierung von Bildung als “kulturelles Kapital” nach Bourdieu und Passeron.
00:03:58: Lydia: Schön ausgesprochen!
00:04:00: Sophie: Ja! Für sie umfasst inkorporiertes kulturelles Kapital die sprachlichen Kompetenzen, das kulturelle Wissen und solche Einstellungen, die das Individuum braucht, um im Bildungs- und Beschäftigungssystem erfolgreich zu sein. Hier ist es also nicht die durch Bildung erlangte Produktivität, die zentral ist, sondern die Beherrschung (z. T. auch elitärer) kultureller Codes und Praktiken. Dabei spielen dann die Bildungslaufbahn und das Lernumfeld eine stärkere Rolle.
00:04:31: Lydia: Daraus ergibt sich dann auch zwangsläufig, dass Bildung unterschiedlich gemessen werden kann, und die Frage danach, was man tatsächlich auch messen will. Geht es um den Schulbesuch? Die Schulleistungen? Die Kompetenzen? Oder formal um den Bildungsabschluss? Fakt ist, dass Bildung ja standardmäßig in Umfragen erhoben wird und sehr oft in statistische Analysen als Kontrollvariable eingeht. Das heißt, man hält in diesen Analysen quasi Bildung konstant, um so einen zusätzlichen Einfluss von Bildung auf das, was man halt erklären möchte, auszuschließen. Andere typische Kontrollvariablen sind Alter, Geschlecht oder Einkommen. Wie dem auch sei. Mein Punkt ist ja eigentlich der, dass Bildung oft ohne vorherige theoretische Reflexion darüber, was eigentlich genau gemessen werden soll, erhoben wird. Also ob die Bildungsvariable Auskunft über den Schulbesuch, die Schulleistungen, die Kompetenzen, den erreichten Schulabschluss (oder anderen Abschluss), die relative Position der Person in der Bildungsverteilung oder die Dauer einer Karriere geben soll. Du siehst also: ein großes Universum, eine große Bandbreite an Möglichkeiten. Anders ist das jetzt natürlich bei den großen - ich sage jetzt mal in Anführungsstrichen - “Bildungsstudien” wie PISA oder PIAAC. Diese fokussieren sich auf Kompetenzen und sind in ihren Messungen dadurch natürlich auch weitaus elaborierter als die simple Messung von Bildungsjahren oder der Art des Bildungsabschlusses.
00:06:09: Sophie: Ja, wir konzentrieren uns an dieser Stelle vor allem auf die großen Kompetenzmessungsstudien. Du hast ja schon von PISA und PIAAC gesprochen gerade. Vermutlich hat schon jeder einmal von der PISA-Studie gehört. PISA hat ja nach dem Erscheinen der Ergebnisse der ersten Erhebungsrunde für großes Aufsehen in Deutschland gesorgt.
00:06:31: Lydia: Allerdings! Daran kann ich mich noch gut erinnern, weil ich zu dem Zeitpunkt gerade in der Schule war und das in den Medien hoch und runter diskutiert wurde.
00:06:39: Sophie: Ich kann mich da auch noch sehr gut dran erinnern. Meine Schulzeit war da zwar schon vorbei – Aha! – aber ich erinnere mich noch an den Knacks, den Deutschland als selbstbewusstes “Bildungsland” durch die leider nicht so hervorragenden Ergebnisse dieser Untersuchung bekommen hat.
00:06:53: Lydia: Nicht nur nicht “so hervorragend”, um dich jetzt mal hier zu zitieren, sondern tatsächlich unter dem Durchschnitt im internationalen Vergleich. Und das als Land der Ingenieure, “Dichter und Denker”...
00:07:06: Sophie: ... Schiller und Goethe ... [Lacht] Das war auf ganzer Linie ein harter Tritt gegen unser bildungsbürgerliches Selbstbewusstsein.
00:07:15: Lydia: Otto und Mops fällt mir auch noch ein ...
00:07:18: Sophie: Genau!
00:07:19: Lydia: Naja, mittlerweile sind wir beim Land der Dichter und Querdenker angekommen, aber davon hatten wir es ja schon in Folge 2 und 3.
00:07:27: Sophie: Übrigens unbedingt mal reinhören: politische Radikalisierung – auch spannend! Egal, also, ich fasse nochmal kurz zusammen, was die PISA-Studie genau macht. Das „Programme for International Student Assessment“, so heißt die Studie in voller Länge, erfasst seit 2000 weltweit im 3-Jahres-Rhythmus die Leistungen von 15-jährigen Schülerinnen und Schülern. Anhand der Ergebnisse kann man die Leistungen der einzelnen Länder miteinander vergleichen und in den Ländern Entwicklungen nachvollziehen. Initiator des Programms ist die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, kurz OECD. In Deutschland hat übrigens das Zentrum für internationale Bildungsvergleichsstudien (ZIB) an der TU München mit der Er ... (verhaspelt sich) ... das ZIB an der TU München ist mit der Erhebung betraut. So! Die Kompetenzbereiche, die in der PISA-Studie gemessen werden, sind Naturwissenschaft, Lesen und Mathematik.
00:08:29: Lydia: Und dann gibt es auch noch PIAAC, das Programme for the International Assessment of Adult Competencies - quasi “PISA für Erwachsene” (lacht) -, für welches GESIS auch mit der wissenschaftlichen Leitung betraut ist. Im Rahmen der PIAAC-Studie wurden 2011/12 die Lesekompetenz, die alltagsmathematische Kompetenz und das adaptive Problemlösen von 16- bis 65-Jährigen in 40 Ländern ermittelt. 2020/21 sollte diese Messung mit 33 Ländern wiederholt werden. Das hat sich jetzt aber coronabedingt verzögert, sodass wir wohl erst im Jahr 2024 mit öffentlich zugänglichen Ergebnissen rechnen können. Insgesamt werden aber pro teilnehmendem Land ca. 5000 zufällig ausgewählte Erwachsene befragt.
00:09:23: Sophie: Das ist ja eine ziemliche Menge! Welche Länder nehmen denn an PIAAC teil?
00:09:27: Lydia: Das ist eine ganz spannende Frage, weil sich PIAAC nämlich nicht auf Europa beschränkt.
00:09:32: Sophie: Ja klar, es ist ja auch eine OECD-Studie. [Lacht]
00:09:34: Lydia: Sehr gut, Sophie, gut aufgepasst! [Lacht] Also ganz konkret haben im ersten Zyklus von PIAAC neben typisch europäischen Ländern wie Frankreich, Deutschland, England, Spanien, Italien ...
00:09:47: Sophie: Zählst du gerade die Teilnehmer der EM auf?
00:09:49: Lydia: [Lacht] ... Sehr witzig. Gut, ich habe es probiert, aber dir ist es leider aufgefallen. Das war der – wie sagt man? – „attention check“ sozusagen. Also neben den typischen europäischen Ländern haben noch Australien, die USA, Chile, Neuseeland, Singapur, Ecuador usw. teilgenommen.
00:10:10: Sophie: [Lacht]
00:10:11: Lydia: [Lacht] Jaa, das sind jetzt nicht die Teilnehmer der WM, sondern von PIAAC! Genau, aber interessant finde ich auch noch die Auswahl der Kompetenzen.
00:10:21: Sophie: Stimmt. Die sind ja bei PISA und PIAAC sehr ähnlich und, wie ich finde, ziemlich eng gefasst. Vor allem, wenn man daran denkt, wie umfassend das Thema Bildung ist. Man hätte sich durchaus auch noch andere oder weitere Kompetenzen vorstellen können, wie – wir haben ja gerade schon vom Land der Dichter und Denker gesprochen – beispielsweise rhetorische Kompetenzen oder ähnliche.
00:10:45: Lydia: Was genau hinter den ausgewählten Kompetenzen steckt, habe ich mich auch gefragt und deshalb habe ich Beatrice Rammstedt dazu befragt. Sie ist Professorin für Psychologische Diagnostik, Umfragedesign und Methodik an der Universität Mannheim und unter anderem Mitglied im Konsortium zur Entwicklung und international vergleichenden Durchführung PIAACs und leitet die Studie für Deutschland. Außerdem ist sie Vize-Präsidentin von GESIS.
00:11:16: Beatrice Rammstedt: In Kompetenzmessungsstudien – in „Large-Scale“-Kompetenzmessungsstudien – geht es in der Regel darum, ganz grundlegende Kompetenzen zu erfassen. Kompetenzen, die die Basis bilden, um weitere, spezifischere Kompetenzen zu entwickeln. Und das sind Kompetenzen, die wichtig sind, um in der heutigen Gesellschaft zu bestehen. Ganz klassisch wird dabei die Lesekompetenz gemessen. Man muss Texte verstehen können, man muss sie interpretieren können – ob das in der eigenen Sprache ist, in einer Fremdsprache ist, egal. Aber das ist eine ganz, ganz grundlegende Kompetenz. Das andere ist der Umgang mit numerischen Inhalten. Ist ein Angebot wirklich ein Angebot? Wie sind Proportionen zueinander? All solche Informationen, die einem täglich begegnen, muss man verstehen können, man muss sie interpretieren können. Das ist also die zweite Basiskompetenz, die hier sowohl im Erwachsenenbereich bei PIAAC wie aber auch im schulischen Bereich gemessen wird (im schulischen Bereich dann häufig deutlich schulnäher von den Inhalten her als jetzt im Erwachsenenbereich). Die dritte Domäne unterscheidet sich so ein bisschen. Bei PISA ist das ja die Naturwissenschaft, auch da merkt man, da sind wir deutlich schulnäher. Aber auch das sind Basisinformationen, die man braucht für das weitere Bestehen in der Gesellschaft. Im Erwachsenenbereich sind wir in der Regel im Problemlösebereich, also: Wie setzen wir uns mit alltäglichen Problemen auseinander? Häufig auch in der digitalen Welt: Können wir eine gute Google-Recherche machen? Ist die sinnvoll? Können wir gute, verlässliche Inhalte von weniger verlässlichen Inhalten unterscheiden? Oder auch: Können wir in einer sich verändernden Umgebung Probleme lösen? Das sind dann immer die Kompetenzen, die da erfasst werden und das bildet wiederum die Basis, um dann spezifische Kompetenzen zu erwerben.
00:13:14: Sophie: Okay, jetzt habe ich auch verstanden, dass ausgerechnet diese Kompetenzen gemessen werden, weil sie die Basis für weitere Kompetenzen bilden.
00:13:23: Lydia: PIAAC ist übrigens aus zwei Vorgängerstudien zur Kompetenzmessung hervorgegangen, hat aber erstmalig die Kompetenzdomäne des technologiebasierten Problemlösens erfasst. Das ist diese dritte Domäne, die Beatrice hier am Ende erwähnt hat.
00:13:38: Sophie: In einer zunehmend technologisierten Gesellschaft total sinnvoll, wie ich finde.
00:13:43: Lydia: Ja, allerdings wurde diese Domäne naheliegenderweise computerbasiert erhoben – geht ja schließlich um technologiebasiertes Problemlösen. Das bedeutet aber auch, dass es für Personen, die entweder keine hinreichenden Computerkenntnisse hatten oder aber nicht am Computer teilnehmen wollten, keine Werte gibt. Die Fragen, die in den Kompetenz-Fragebogen eingehen, sind übrigens streng geheim. Ich weiß nicht, ob du es gewusst hast, Sophie, aber ich finde das immer wieder bezeichnend: Obwohl ich tatsächlich Kolleg*innen in meinem eigenen Team habe, die in PIAAC arbeiten, würde ich es niemals hinkriegen, tatsächlich vor Durchführung der Studie herauszufinden, was genau eigentlich gefragt wird. Und das, obwohl ich doch so neugierig bin. Ein wahnsinnig harter Schicksalsschlag! Aber gut, das ist halt ein bisschen so wie bei den streng geheimen Abituraufgaben.
00:14:38: Sophie: Ja, aber die Ergebnisse sind nicht geheim, zumindest kennen wir die aus dem ersten Erhebungszyklus: Die Lesekompetenz, die PIAAC übrigens besonders ausdifferenziert misst, insbesondere im unteren Kompetenzbereich, die liegt bei den Deutschen knapp unter dem OECD-Durchschnitt, dafür liegen die alltagsmathematischen Kompetenzen leicht darüber.
00:15:00: Lydia: Wir sind also mehr oder weniger Durchschnitt, egal wie sehr es schmerzt. Übrigens auch im technologiebasierten Problemlösen.
00:15:08: Sophie: Ja, sozusagen Durchschnitt. In allen Ländern zeigt der Vergleich, dass jede zusätzliche Bildung nach dem Hauptschulabschluss im Mittel mit deutlich höheren Kompetenzen einhergeht. Das scheint ja auch irgendwie logisch. In Deutschland fällt aber zusätzlich auf, dass besonders das Kompetenzniveau im Erwachsenenalter stark vom elterlichen Bildungshintergrund geprägt ist.
00:15:30: Lydia: Der Zusammenhang zwischen Kompetenzniveau und dem Bildungshintergrund der Eltern besteht aber nicht nur bei Erwachsenen, sondern übrigens laut PISA ja auch bei Schüler*innen.
00:15:43: Sophie: Und wie wirkt sich dann die Arbeitsstelle auf die Kompetenzen Erwachsener aus?
00:15:46: Lydia: [Lacht] Schöne Frage: Wer beeinflusst jetzt eigentlich wen? Also, die Arbeitsstelle die Kompetenzen oder die Kompetenzen den Zugang zur Arbeitsstelle? Allgemein kann man sagen, dass (durchschnittlich gesprochen natürlich) Erwerbstätige höhere Grundkompetenzen aufweisen als Erwerbslose und Nichterwerbspersonen. Wer auch immer jetzt welches Ei zuerst gelegt hat.
00:16:15: Sophie: Und, höhere Grundkompetenzen gehen auch mit einem höheren Einkommen einher, wobei sich das Niveau der Grundkompetenzen bei Männern und Frauen kaum voneinander unterscheidet.
00:16:26: Lydia: Die Gehälter leider schon ...
00:16:28: Sophie: [Lacht zynisch] Ja, das muss man leider so feststellen ...
00:16:30: Lydia: So viel zu den Kompetenzen, na gut. Um die eben erwähnten Bildungsabschlüsse zu erreichen, müssen wir aber lernen. Liebe Faktenfreunde, ihr wollt doch bestimmt auch wissen, was den Lernerfolg an sich so beeinflusst, oder?
00:16:50: Sophie: Ja klar, das ist spannend, insbesondere wenn man damit auch indirekt, sag ich mal so, sein Gehalt positiv beeinflussen kann.
00:16:59: Lydia: Ich weiß gar nicht, warum du so eine lange Pause lässt und „Ja klar“ sagst, das ist ja jetzt nicht gerade überzeugend, aber nun gut [lacht]. Dann gehe ich jetzt mal auf den ...
00:17:06: Sophie: Das war ja jetzt ja auch ein bisschen an den Haaren herbeigezogen, oder? Man muss sich auch interessant machen können [lacht]!
00:17:13: Lydia: Ja ja [lacht]! Also, dann gehe ich jetzt mal auf den Lernerfolg bei Schüler*innen ein. Die verschiedenen Faktoren, die einen Einfluss auf Lernerfolg haben, lassen sich nämlich in verschiedene Domänen unterteilen, darunter natürlich die Schule, der Unterricht und die Lehrperson, aber auch das Elternhaus.
00:17:30: Sophie: Total aufschlussreich ist dazu die Hattie-Studie, die John Hattie, ein neuseeländischer Pädagoge, durchgeführt hat. Die Hattie-Studie ist eine Meta-Studie, die genau diese Bereiche und die ihnen zugeordneten Einflussfaktoren in den Blick nimmt. Ziel der Studie ist es eine Rangliste darüber zu erstellen, welche Faktoren die größten Effekte auf einen erfolgreichen Bildungsweg haben.
00:17:55: Lydia: Und um das jetzt nochmal ein bisschen zu erklären: Bei Metaanalysen werden normalerweise eine Vielzahl an vorhergehenden Studien zusammengefasst und statistisch ausgewertet. Studien können sich nämlich widersprechen und zu entgegengesetzten Ergebnissen kommen. Auch rein zufällig, einfach deshalb, weil unterschiedliche Studien mit unterschiedlichen Stichproben arbeiten. Und deshalb ist man in der Wissenschaft so scharf darauf, Ergebnisse zu replizieren.
00:18:24: Sophie: Mit „replizieren“ meinst du, dass man in der Wissenschaft zur Qualitätssicherung Studien wiederholt, um zu überprüfen, ob man bei der Wiederholung zum gleichen Ergebnis kommt.
00:18:32: Lydia: Genau. Die Grundidee von Meta-Studien ist in diesem Kontext besonders toll, weil Meta-Studien eben probieren, über viele Studien hinweg zu erkennen, welche Zusammenhänge im Großen und Ganzen vorliegen.
00:18:46: Sophie: Besonders aussagekräftig werden diese Zusammenhänge auch dadurch, dass die Hattie-Studie nicht nur eine riesige Datenbasis aufweist ...
00:18:54: Lydia: Genau genommen ist die Hattie-Studie eine Metaanalyse von mittlerweile ca. 1200 Metaanalysen ... Also eine Meta-Metaanalyse, oder eine Mega-Analyse, sozusagen.
00:00:00: Sophie: ... Ja, genau richtig. Und zusätzlich ist sie aber auch eine internationale Studie, wodurch nationale Eigenheiten in den Hintergrund treten und man generelle Aussagen treffen kann über die Faktoren, die für den Bildungserfolg entscheidend sind.
00:19:22: Lydia: Allerdings müssen die Ergebnisse der Studie auch kritisch hinterfragt werden, weil eine Meta-Analyse immer nur so gut sein kann wie die Studien, auf die sie sich bezieht. Das Gleiche ist natürlich mindestens genauso relevant bei einer Meta-Metaanalyse. Wenn also die Studien qualitativ nicht gut gemacht waren, aber in die Analyse eingehen, dann kann das die Effekte verzerren.
00:19:47: Sophie: Ja, Meta-Meta-Meta eben [lacht]
00:19:49: Lydia: [Lacht] Mega! Voll mega.
00:19:52: Sophie: Ja, voll mega! Ja, das wird der Hattie-Studie ja teilweise auch vorgeworfen.
00:19:52: Lydia: Nichtsdestotrotz liefert sie ein paar interessante Ergebnisse, und ist nicht nur eine Mega-Studie, sondern eine Mega-Mega-Studie [lacht].
00:20:06: Sophie: [Lacht] Ja, auf jeden Fall. Die Hauptbotschaft ist vermutlich, dass die Beziehungsebene der wichtigste Faktor für den Lernerfolg ist. Dazu gehört natürlich in allererster Linie das Verhältnis zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen. Entscheidend sind hier der persönliche Kontakt sowie die Ziele und Visionen der Lehrpersonen und wie gut die Lehrer*in das vermitteln kann. Aber eben auch der Austausch mit Gleichaltrigen in der Schule hat einen ganz wesentlichen Einfluss auf die Motivation und damit natürlich auch auf den Lernerfolg.
00:20:38: Lydia: Spannend finde ich vor allem, dass so Faktoren wie Fachkompetenz und Klassenführung eine erstaunlich geringe Rolle spielen, während die Klarheit und Glaubwürdigkeit der Lehrperson einen ganz entscheidenden Einfluss haben. Ebenso die Einschätzung der Leistung durch die Lehrperson als Motivator.
00:20:59: Sophie: Ein zweites wichtiges Ergebnis der Hattie-Studie ist, dass das schon bereits vor der Pandemie viel geforderte webbasierte und Online-Lernen sowie die Laptop-Einzelnutzung kaum Effekte auf den Lernerfolg hat. Die Hattie-Studie relativiert also die Bedeutung der Digitalisierung in Schulen und betont, dass Schüler*innen dann profitieren, wenn digitale Medien sinnvoll in den Unterricht eingebunden werden.
00:21:23: Lydia: Es gibt zwar noch viele weitere Faktoren und Domänen, aber den Einfluss des Elternhauses finde ich jetzt gerade im Corona-Kontext auch noch mal ganz interessant, weil sich die Kinder ja aufgrund von Schulschließungen ja fast ausschließlich zu Hause aufgehalten haben, oder zumindest in sehr großen Teilen. Und insbesondere das häusliche Anregungsniveau spielt dabei eine Rolle. Sprich die Qualität des soziopsychologischen Umfelds und die intellektuelle Stimulation zu Hause, die einen ähnlich überdurchschnittlichen Effekt hat wie die elterliche Unterstützung beim Lernen. Des Weiteren zeigt die Hattie-Studie, dass der sozioökonomische Status (also die Position des Haushaltes in der sozialen Hierarchie) einen überdurchschnittlichen Effekt auf den Lernerfolg hat.
00:22:09: Sophie: Zu diesem Ergebnis ist ja auch die erste PISA-Studie gekommen (also die erste Erhebung der PISA-Studie), die dem familiären Hintergrund für Deutschland einen sehr großen Einfluss auf den Bildungserfolg der Schüler*innen bescheinigt hat. Aufgrund von verschiedenen politischen Maßnahmen ist diese Einflussgröße zwar in den Folgeerhebungen geringer ausgefallen, aber sie ist halt auch nie ganz verschwunden.
00:22:33: Lydia: Mich hat in diesem Kontext interessiert, ob es hierbei vor allem ums Geld geht. Deshalb habe ich Nora Müller dazu befragt.
00:22:41: Sophie: Nora Müller ist Forschungsreferentin in der Abteilung Dauerbeobachtung der Gesellschaft hier bei GESIS und forscht unter anderem zu Vermögensungleichheit und Bildungsungleichheit.
00:22:53: Lydia: Genau. Ich habe sie gefragt, ob der sozioökonomische Hintergrund bei der Betrachtung von Bildungsungleichheit von Schüler*innen in Deutschland eine Rolle spielt. Hören wir mal rein, wie sie das einschätzt:
00:23:05: Nora Müller: Es gibt viele Studien, die zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, auf ein Gymnasium zu gehen, für Schüler*innen mit niedriger sozioökonomischer Herkunft deutlich geringer ist als für Schüler*innen mit einer hohen sozioökonomischen Herkunft. Und das gilt sogar bei gleichen Kompetenzen und kognitiven Fähigkeiten dieser Schüler*innen. Und Ähnliches zeigt sich, wenn wir uns nur die Schüler*innen anschauen, die es aufs Gymnasium geschafft haben. Hier ist die Wahrscheinlichkeit von Gymnasiast*innen, ein Abitur zu erlangen, auch wieder abhängig von ihrer sozioökonomischen Herkunft. Eine wichtige Frage ist jetzt in diesem Kontext, ob sich diese Ungleichheiten über die Bildungskarrieren der Schüler*innen hinweg verstärken oder nicht. Bisher wurde oft von einer Verstärkung ausgegangen, weil es in Deutschland ein dreigliedriges Schulsystem gibt, mit einer frühen Leistungsselektion. Wechsel zwischen den verschiedenen Schultypen sind zwar möglich, kommen aber extrem selten vor und wenn sie vorkommen, dann finden sie meistens von einem höheren zu einem niedrigeren Schultyp statt. Deswegen scheint es also zunächst recht plausibel anzunehmen, dass die Bildungsunterschiede nach sozioökonomischer Herkunft durch eben diese frühe Selektion der Schüler*innen in das dreigliedrige Schulsystem über die Zukunft zunehmen. Und jetzt ist im letzten Jahr eine Studie erschienen von Jan Skopek und Giampiero Passaretta, die etwas anderes zeigt, nämlich, dass sich die Ungleichheit in den kognitiven Fähigkeiten nach sozioökonomischem Hintergrund in Deutschland bereits vor dem Schuleintritt, d. h., bereits im Alter von einem halben Jahr, recht stark unterscheidet. Und diese Unterschiede in den kognitiven Fähigkeiten vergrößern sich noch weiter bis zum Schuleintritt mit ungefähr 6 Jahren. Das heißt: Sind die Kinder also einmal eingeschult, bleiben die Unterschiede in den kognitiven Fähigkeiten stabil. Und daraus schließen die Forscher wiederum, dass der Schulbesuch die Bildungsungleichheit nach sozioökonomischem Hintergrund in Deutschland sogar verringert.
00:24:58: Sophie: Dann kann man ja vermutlich davon ausgehen, dass durch die Corona-Maßnahmen die Effekte zugenommen haben?
00:25:04: Lydia: Genau dazu hat Nora auch noch mal näher ausgeführt:
00:25:08: Nora Müller: Es gibt Studien, die zeigen, dass sich die Fähigkeiten der Schüler*innen nach sozioökonomischer Herkunft nach den Schulferien stärker unterscheiden als vor den Schulferien, was in dieselbe Richtung deutet wie die Studie von Skopek und Passaretta. Das heißt also: Fällt der ausgleichende Effekt der Schule weg, gelingt es Eltern mit hohem sozioökonomischem Status recht gut, die Fähigkeiten ihrer Kinder weiterzuentwickeln, während Eltern mit niedrigem sozioökonomischem Status hier viel mehr Probleme haben. Wichtig sind dabei nicht nur die Unterschiede dieser Eltern in Bildung, Beruf und Einkommen, mit denen sie ihre Kinder besser beim Lernen unterstützen und auch ausstatten können, sondern auch die Unterschiede im Vermögen. Das habe ich mit meinem Kollegen Jascha Dräger in einer Studie gezeigt. Ein möglicher Grund hinter diesem Zusammenhang (zwischen dem elterlichen Vermögen und den Bildungsunterschieden, in diesem Fall während Corona) kann sein, dass die vermögenden Eltern während der Pandemie durch ihre Rücklagen weniger von externen Faktoren wie Entlassungen und Kurzarbeit beeinträchtigt wurden, da sie die Ausfälle, die dadurch entstehen, zeitweise kompensieren können oder konnten.
00:26:18: Sophie: Das ist ja spannend, wenn sogar schon die Sommerferien ausreichen, um Effekte zu beobachten, wie muss es dann erst nach den immer wiederkehrenden Lockdowns sein.
00:26:28: Lydia: Guter Punkt. Tatsächlich ist es so, dass die ganzen unterschiedlichen Faktoren und Domänen, die Hattie in seiner Studie anspricht und die den Lernerfolg beeinflussen, unterschiedlich stark von der Pandemie-Situation beeinflusst wurden.
00:26:44: [Ding] Achtung, Disclaimer! Zu den nun folgenden Ausführungen haben wir das Folgende zu sagen: Erstens, die Datengrundlage ist dürftig. Zweitens, die Daten sind mit Vorsicht zu interpretieren. Der politische und wissenschaftliche Zeitdruck, an Daten zur Pandemiesituation zu kommen, geht mitunter zu Lasten der Datenqualität. Drittens, es handelt sich bei den hier berichteten Zahlen um Durchschnittswerte. Das heißt, diese sind nicht deterministisch und bilden nur einen groben Trend ab. Die berichteten Werte gelten nicht automatisch für jede Familie, jede Schule oder jede Schülerin bzw. jeden Schüler. Disclaimer Ende. [Ding]
00:27:28: Sophie: So, jetzt wisst ihr Bescheid, ne? Jetzt aber nochmal zurück zu Hattie und dann hin zur Bildungssituation unter Pandemie-Bedingungen. Ich greife hier nochmal kurz die Domänen bei Hattie auf, die mir für den Lernerfolg unter Pandemie-Bedingungen entscheidend erscheinen. Da sind natürlich erstmal die Schülerinnen und Schüler selbst. Und eng damit verbunden auch ihr Elternhaus. Wichtig sind außerdem die Lehrperson und die Unterrichtsgestaltung. Ja, aber lass uns erstmal über die Situation der Schülerinnen und Schüler sprechen. Wie geht es denen in der Pandemie?
00:28:04: Lydia: Naja, soweit ich das beurteilen kann [lacht]: Also gerade bei den Schüler*innen sind psychologische Aspekte wie Angst oder Depression zu nennen, aber natürlich auch das Wegfallen von Bewegung und Entspannung während Corona.
00:28:17: Sophie: Die Situation war ja für Grundschüler – soweit ich das jetzt beurteilen kann – besonders schwierig, weil hier noch ganz grundlegende Kompetenzen wie Rechnen, Lesen und Schreiben erlernt und geübt werden müssen. Und dazu gehören ja auch Strukturen und Kompetenzen wie Selbstorganisation. Und klar, das lernen Kinder im Idealfall auf spielerische Art und in der Interaktion mit Lehrer*innen und Mitschüler*innen.
00:28:44: Lydia: Das Spielen untereinander ist ja auch sooo wichtig. Gerade der Austausch mit anderen Kindern hat jetzt meinem Sohn zum Beispiel extrem gefehlt. Und das konnten wir Erwachsene nicht auffangen. Es geht eben doch nichts über so richtiges Kindergeplappere unter sich [lacht]!
00:28:59: Sophie: Ja, und Eltern sind ja keine ausgebildeten Lehrkräfte und zudem auch oft berufstätig, wie wir zum Beispiel.
00:29:06: Lydia: Genau, das kommt noch hinzu. Laut der Mannheimer Corona-Studie arbeitet übrigens rund ein Viertel der befragten Berufstätigen im Homeoffice, wobei die Arbeit im Homeoffice wohl ein Privileg der gut Gebildeten bzw. der Akademiker*innen zu sein scheint. Das sind nämlich auch diejenigen, die sich vermehrt darum bemühen, Homeschooling und Homeoffice unter einen Hut zu bringen. Das ist wiederum schwer zu leisten, vor allem wenn man zu Hause zwei berufstätige Eltern hat. Die Nicht-Akademiker*innen können hingegen auch viel seltener Homeoffice machen und haben damit auch eine geringere Chance, ihre Kinder zu Hause zu unterstützen. Deswegen haben Klaus Hurrelmann (der ist Professor an der Hertie School of Governance) und Dieter Dohmen (der wiederum ist Direktor des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie) auch gefordert, dass vor allem Grundschulen in sozial benachteiligten Stadtteilen sowie Mittel-, Real-, und Gesamtschulen zuerst nach dem Lockdown öffnen sollten. Also noch vor Gymnasien, an denen tendenziell auch mehr Schüler*innen aus Akademiker*innenhaushalten sind.
00:29:06: Sophie: Ja, da sind wir ja jetzt schon drüber weg und es ist natürlich nicht berücksichtigt worden. Gut, aber natürlich sind nicht nur die Eltern und Schüler wichtig für den Bildungsprozess, sondern auf der anderen Seite auch die Lehrpersonen beziehungsweise der von ihnen gestaltete Unterricht. In diese Domäne fällt ja auch der nach Hattie entscheidende Faktor für den Lernerfolg, nämlich die Lehrer-Schüler*innen-Beziehung ...
00:30:47: Lydia: [Lacht]
00:30:48: Sophie: Ja, auch schön dann, ne [lacht]? Die war ja hinter den Alltagsmasken oder über den Bildschirm – bei Zoom oder Teams oder welcher Plattform auch immer – nicht so leicht aufrechtzuerhalten.
00:31:00: Lydia: Jetzt frage ich mich natürlich, ob das nicht Lehrer*innen-Schüler*innen-Beziehung heißen müsste [lacht] ...
00:31:06: Sophie: Doch, doch!
00:31:07: Lydia: ... um es noch mehr zu verkomplizieren! Aus exquisiten Quellen weiß ich übrigens, dass dir, liebe Sophie, das Thema Digitalisierung im Schulkontext unter den Nägeln brennt. Deshalb: Sag doch mal einfach irgendwas dazu [lacht]!
00:31:22: Sophie: [Lacht] Ja, okay! Also, der Stand der Digitalisierung an deutschen Schulen spielt ...
00:31:25: Lydia: Überhaupt nicht abgesprochen übrigens [lacht]!
00:31:28: Sophie: [Lacht] ... spielt natürlich, ja ... Wollte ich! Habe ich mich vorgedrängelt ... Der Stand der Digitalisierung an deutschen Schulen spielt natürlich eine entscheidende Rolle. Digitalisierung betrifft ja viele Bereiche. Zum einen die Ausstattung mit Computern bzw. Laptops an den Schulen. Ja, aber auch die Ausstattung in den Familien. Und es geht auch nicht nur um Hardware, sondern auch um das Netz, das vielerorts nicht stark genug war, um digitalen Unterricht überhaupt zu ermöglichen. Und hinzu kommt ein Defizit bei der Medienkompetenz, die vor der Pandemie nicht erworben worden ist, sowohl bei Schüler*innen und ihren Familien als auch beim Lehrpersonal. Und all diese Faktoren haben das digitale Lernen natürlich extrem erschwert und – wie man gesehen hat – manchmal sogar unmöglich gemacht. Da die Digitalisierung also so eine entscheidende Rolle als Bildungs- bzw. Lernmedium eingenommen hat, habe ich mir an dieser Stelle Wissen von einer Expertin in diesem Bereich eingeholt.
00:32:33: Lydia: Und zwar von Ulrike Cress. Sie ist Professorin für Psychologie an der Universität Tübingen und Direktorin des Leibniz-Instituts für Wissensmedien (IWM).
00:32:47: Sophie: Neben vielen anderen Mitgliedschaften ist sie außerdem auch Mitglied der Sprecher*innen-Gruppe des Leibniz-Forschungsnetzwerks Bildungspotentiale (kurz: LERN). Im LERN-Netzwerk haben sich 25 Einrichtungen der Leibniz-Gemeinschaft zusammengeschlossen, um ihre Expertise in Bildungsfragen zu bündeln und dadurch die Sichtbarkeit bei politischen Entscheidungsträger*innen, in der Bildungsadministration, aber auch in der Öffentlichkeit zu erhöhen. Also geballtes Wissen zum Thema Bildung an dieser Stelle für alle, die sich hier weiter damit beschäftigen wollen.
00:33:23: Lydia: Allerdings! Übrigens haben wir das LERN-Netzwerk neben allen anderen hier erwähnten Studien auch nochmal für Euch, liebe Faktenfreunde, in unserem Zusatzmaterial auf podcast.gesis.org verlinkt. Aber jetzt hören wir erstmal rein, was Ulrike Cress uns zum Thema Digitalisierung in der Schulbildung zu sagen hat und wie effektiv sie das Lernen mit digitalen Medien einschätzt.
00:33:49: Ulrike Cress: Die Nutzung digitaler Medien macht das Lernen nicht automatisch effektiver oder weniger effektiv. So, wie wenn Sie ein Buch lesen, sind Sie nicht automatisch gebildet, sondern es hängt davon ab, was im Buch steht und so hängt es genauso davon ab, was mit diesen Medien bewirkt wird an Aktivität der Schüler und Schülerinnen. Und je mehr Aktion, aktives Nachdenken, aktives Denken angeregt wird bei Schülern und Schülerinnen, desto effizienter können Medien sein. Im Prinzip erweitern sie einfach den Spielraum, den eine Lehrkraft hat in das Digitale: dass Kollaboration möglich ist, dass Interaktion möglich ist, dass Visualisierungen möglich sind, dass Kinder sehr viel tiefer in den Lernstoff einsteigen können, selbstbestimmter in den Lernstoff einsteigen können und damit neue Möglichkeiten haben, die normale Schulbücher normalerweise nicht bieten.
00:34:42: Sophie: Uns hat natürlich auch die Einschätzung von Ulrike Cress in Bezug auf das digitale Homeschooling interessiert. Also, wie gut ist es den Schulen gelungen, den Unterricht über digitale Plattformen zu gestalten?
00:34:55: Ulrike Cress: Nun, die Lehrer waren ja in keiner Weise vorbereitet auf so etwas. Und die Schulen waren nicht ausgestattet. Und in Hinblick dessen, fand ich es doch überraschend gut, was alles laufen konnte. Das Überraschende auch war, dass auf einmal synchroner Unterricht digital sein sollte. Was ja etwas ist, was vorher eigentlich niemand so richtig im Blick hatte, dass es darum geht, eigentlich Schulräume zu ersetzen durch digitale Räume. Und das hat dazu geführt, dass man einfach normalen Unterricht versucht hat digital zu übertragen: über Arbeitsblätter, über das, dass man Kinder zusammen bekommen hat zu bestimmten Arbeitszeiten. Der digitale Unterricht selber kann viel mehr. Dessen Stärke ist sicherlich nicht im Ersetzen des Face-to-Face-Unterrichts, sondern in der Vertiefung. Und insofern waren diese Erfahrungen, die jetzt gemacht wurden, mal ein guter Startpunkt. Lehrkräfte hatten erkannt, was wir mit Medien leisten können, aber sie haben ganz sicher nicht das Potenzial von Medien ausgeschöpft. Sondern im Gegenteil, sie waren sicher schlechter als der normale Unterricht.
00:35:58: Sophie: Ich fand in dem Gespräch auch nochmal wichtig, dass wir Digitalisierung an Schulen jetzt nicht nur vor dem Hintergrund der Pandemie verstehen, sondern dass ja schon lange vorher das Thema Digitalisierung an Schulen erforscht wurde und weiter erforscht wird. Insofern ist es wichtig, die Erfahrung aus dem Lockdown – oder aus mehreren Lockdowns – jetzt auch wieder in diesen Kontext einzubetten. Ich habe Ulrike Cress dann natürlich auch noch gefragt, welche Risiken und Chancen Sie für die Zukunft sieht und fand ihre Antwort deutlich ermutigender, als ich es mir erhofft habe.
00:36:34: Ulrike Cress: Ich glaub’, das digitale Lernen in der Bildung, in der Schule, hat sehr viele Chancen. Ich denke, wenn es wirklich eingeführt ist, wenn es Lehrkräfte nutzen können, kann auch eine ganz neue Lernkultur entstehen, in der Selbststeuerung eine größere Rolle spielt, aktives Lernen der Schüler und Schülerinnen, Kollaboration. Die Lehrkraft wird weniger zum Instruktor als zum Mentor, der begleitet. Auch die Lehrer/Lehrkräfte untereinander werden eher kollaborativ sein auf Dauer, bis hin, dass sich das Schulgebäude verändern wird. Der Weg dorthin ist noch ein sehr, sehr weiter. Also zunächst braucht man Ausbildung der Lehrkräfte, dass die überhaupt diese Medien nutzen können adäquat. Und wir brauchen eine technische Basis, die überhaupt vorhanden ist, damit Schüler, Schülerinnen, Lehrkräfte diese Medien auch zur Verfügung haben. Und da stehen wir ja noch ganz am Anfang. Da sind wir noch bei weitem nicht so ausgestattet, dass diese digitalen Medien wirklich problemlos laufen können. Insofern ein ganz klarer Impuls: Wir brauchen Technik, wir brauchen Ausbildung, Weiterbildung der Lehrkräfte und dann erst können diese Potenziale zum Tragen kommen.
00:37:47: Lydia: Ich habe wirklich ein paar interessante Sachen aus dem Gespräch mit Ulrike Cress mitgenommen. Also: digitale Medien sind nicht pauschal schlecht oder besonders gut für den Unterricht geeignet, sondern es hängt davon ab, wie gut sie die Schüler*innen in konkreten Fällen anregen und aktivieren können.
00:38:07: Sophie: Ja! Und es geht nicht darum, Präsenzunterricht zu ersetzen, sondern ihn mit digitalen Möglichkeiten anzureichern. Dazu kann dann vielleicht auch mal gehören, in Kleingruppen in Präsenz zu arbeiten und sich Teile des Lernstoffs dafür digital anzueignen. Oder auch bei der Wahl des Lernorts variabel zu sein und zum Beispiel Museen oder dergleichen einzubeziehen.
00:38:32: Lydia: Gerade den letzten Punkt bzw. Impuls von Ulrike Cress finde ich ganz wichtig: Wir brauchen Technik, Ausbildung und Weiterbildung der Lehrkräfte, um das Potenzial digitaler Medien für den Unterricht wirklich ausschöpfen zu können. Also hier, liebe Politiker oder Entscheidungsträger, die ihr zuhört (oder Politiker*innen/Entscheidungsträger*innen): Ihr wisst, was ihr zu tun habt [lacht]!
00:38:57: Sophie: [Lacht] Ja, also, schnell gehen wird es nicht, das ist klar. Aber immerhin sind wir in dieser Hinsicht einen wichtigen Schritt vorangekommen.
00:39:06: Lydia: Das war doch jetzt ein schöner Schlusssatz! Schön, dass ihr uns zugehört habt.
00:39:11: Sophie: Wenn euch unser Podcast gefallen hat, dann hört doch auch mal in die anderen Folgen rein, zum Beispiel zu politischer Radikalisierung usw.
00:39:21: Lydia: Ihr findet uns auf iTunes, Spotify und allen anderen gängigen Plattformen. Schaut doch auch mal in unser Begleitmaterial auf podcast.gesis.org rein. Da findet ihr neben weiteren inhaltlichen Ausführungen, Studien und Links auch die heutigen drei Powerfrauen.
00:39:39: Sophie: Vielen Dank an dieser Stelle an Beatrice Rammstedt, Nora Müller und Ulrike Cress.
00:39:44: Lydia: Auch von mir herzlichen Dank! Bis zur nächsten Folge, liebe Faktenfreunde! Wir bedanken uns bei euch fürs Zuhören, bei Emma Link, Linna Umme und Claudia O’Donovan-Bellante für ihre inhaltliche und technische Unterstützung. Und natürlich, passend zur Kölner Wissenschaftsrunde, auch bei Carolin Kebekus und Karl Lauterbach für Ihre aufmunternden Töne [lachen].
00:40:07: Sophie: [Singt] Der Sommer, der Sommer, der Sommer er wird guhut....
00:40:11: Lydia: Aber Frau Zervos, der Sommer wird gut, aber mit Einschränkungen. [knüllt Papier]
00:40:20: Sophie: Tschüssi!
00:40:22: Lydia: Ciao!