Die Fakten dicke! Der GESIS Podcast. Klicken um zur GESIS-Podcast-Homepage zu wechseln

Transkript

Zurück zur Episode

00:00:06: Habt ihr auch das Gefühl, dass es immer mehr Menschen mit krassen Ansichten gibt? Fragt ihr euch, wo die plötzlich alle herkommen? Und warum sie sich mit ihrer Flagge unbedingt vor den Reichstag stellen müssen? „Die Fakten dicke – der GESIS-Podcast“ nimmt euch mit in die Welt der Forschungsdaten. Dabei sind Dr. Sophie Zervos und Dr. Lydia Repke. Viel Spaß mit unserer Folge: „Coronas Mob trotzt – Teil 2 von 2.“

00:00:36: Lydia: Achtung, kleiner Hinweis: Diese Folge besteht aus zwei Teilen, die im Home-Office aufgenommen wurden, unter äußerst erschwerten Bedingungen. Warnhinweis Ende.

00:00:51: Sophie: (Lacht) Ha, da bist du ja schon, hallo „Lydy“ Jones! Liebe Hörerinnen und Hörer, herzlich willkommen zum zweiten Teil unserer Dilogie „Coronas Mob trotzt“!

00:01:02: Lydia: (Lacht) Hallo Sophie! Auch von mir ein herzliches Willkommen, liebe Faktenfreunde!

00:01:08: Da sind wir also wieder. Nachdem wir ja im ersten Teil der Dilogie nicht so richtig damit weitergekommen sind, dem Phänomen der politischen Radikalisierung auf die Spur zu kommen, starten wir jetzt noch einmal frisch durch.

00:01:21: Lydia: Was heißt denn hier „nicht so richtig weitergekommen sind“? Wir haben doch einiges erreicht: Also, wir haben uns erstmal mit unserem Umfragestatistiker Matthias Sand unterhalten und dabei festgestellt, dass Umfragen bzw. die Interpretation der daraus resultierenden Ergebnisse doch schon ein paar Tücken aufweisen können, wie zum Beispiel systematischer Non-Response, oder so. Das ist doch schon mal eine Wahnsinnserkenntnis! Man muss bei Umfragen nämlich immer das Kleingedruckte lesen und sich genau angucken, über wen man anhand der erhobenen Daten welche Aussagen treffen kann.

00:01:54: Sophie: Ja, da hast Du natürlich recht, Lydia. Ich meinte auch nur mit „nicht so richtig weitergekommen“, dass wir mit den Methoden der klassischen Datenerhebung, die wir ja in der letzten Folge angewendet haben, die Gruppe der politisch Radikalisierten nicht erfassen konnten. Und, weil die ja als Wissenschaftskritiker an wissenschaftlichen Untersuchungen bzw. wissenschaftlichen Erhebungen schon rein systematisch nicht teilnehmen.

00:02:22: Lydia: Na, dann ist ja gut. Außerdem haben wir ja einiges zum Thema Repräsentativität gelernt. Zum Beispiel, dass Repräsentativität im statistischen bzw. mathematischen Sinne gar nicht definiert ist, dass man aber dennoch im wissenschaftlichen Sinne darunter versteht, dass die Stichprobe ein kleines Abbild der Grundgesamtheit ist.

00:02:41: Sophie: Okay, also: Meinst du mit Grundgesamtheit alle Personen, über die letztendlich eine Aussage getroffen werden soll? Und dann ist die Stichprobe entsprechend eine Auswahl aus diesen Personen, die eine Umfrage ausfüllen?

00:02:55: Lydia: Genau.

00:02:56: Sophie: Ja, das erklärt natürlich, warum Otto Normalverbraucher...

00:03:00: Lydia: Und sein Mops?

00:03:02: Sophie: ... eine andere Vorstellung von Repräsentativität hat, nämlich die, dass die Ergebnisse aus einer Umfrage skalierbar sind. Damit meine ich, dass die in der Umfrage gemessenen Einstellungen auch die Einstellungen der Grundgesamtheit widerspiegeln, also, dass sie „wahr“ sind. Und das sind sie, wie wir in der ersten Folge ja festgestellt haben, natürlich nicht.

00:03:23: Lydia: Denn die Ergebnisse in Studien können ja immer nur Schätzungen des wahren Wertes sein und diese Schätzungen sind abhängig von der Zusammensetzung der Stichprobe. Also sprich: welche Ottos und welche Ottilien nun die Umfrage beantworten.

00:03:36: Sophie: Trotz all dieser guten und wahren Einsichten – liebe Lydia (lacht) – haben wir aber unsere Ausgangsfrage noch nicht beantwortet, nämlich, ob im Verlauf der Pandemie tatsächlich eine politische Radikalisierung stattgefunden hat.

00:03:51: Lydia: Du weißt doch, Sophie: Der Weg ist das Ziel. (Lacht)

00:03:53: Sophie: (Lacht) Das stimmt. Ja, und deswegen haben wir ja auch beschlossen, jetzt nochmal frisch durchzustarten, und begeben uns heute ganz explorativ auf Spurensuche, und wollen herausfinden, wie wir vielleicht doch faktenbasiert zur Diskussion beitragen können. Hast du Lupe und Taschenmesser griffbereit, Lydia? Und vor allem: bist du zu diesem Abenteuer aufgelegt?

00:04:17: Lydia: [trötet Titelmelodie von Indianer Jones]

00:04:27: Sophie: (Lacht) Okay...

00:04:28: Lydia: Reicht dir das? (Lacht)

00:04:29: Sophie: ... das nenne ich mal ein klares Commitment. Okay, dann mal los! Also, wir hatten ja schon im ersten Teil festgestellt, dass die politische Radikalisierung sich nicht nur an den Rändern der Gesellschaft abspielt, sondern dass sie spürbar - wenn auch “light” - in der Mitte der Gesellschaft stattfindet. Ich denke da aus meinem privaten Umfeld zum Beispiel an Eltern aus der Schule meiner Kinder oder an irgendwelche fernen Bekannten auf Facebook. Aber es kann ja natürlich auch sein, dass die mir momentan auch nur ins Auge fallen, weil die so ein hohes Mitteilungsbedürfnis haben. Also teilweise wird man ja geradezu bombardiert mit Informationen aus den unterschiedlichsten Quellen.

00:05:11: Lydia: Ja genau, und das war ja auch unsere Ausgangsfrage. Nämlich, ob es tatsächlich mehr Radikale gibt oder ob die einfach nur sichtbarer geworden sind, weil sie zum Beispiel Social-Media-Plattformen gut nutzen können, um Wellen zu schlagen.

00:05:24: Sophie: Ja, als Quellen sehr beliebt sind ja Zitate und Aussagen von Ärzt*innen und Wissenschaftler*innen, die allerdings der Konsensmeinung widersprechen.

00:05:33: Lydia: Na dagegen ist ja erstmal nichts einzuwenden, dass man sich Quellen sucht, die das eigene Argument untermauern, oder? Das machen wir doch auch.

00:05:40: Sophie: Ja, natürlich, das stimmt. Aber leider sind die oft weit entfernt von dem, was man als wissenschaftlichen Konsens bezeichnen kann. Und außerdem werden sie immer wieder so recht unglücklich mit qualitativ sehr unterschiedlichen Stimmen vermischt, die ja irgendwie ziemlich wahllos aus dem Netz geklaubt wirken.

00:05:58: Lydia: Achtung, Kalauer! Kommt klauben jetzt von mopsen?

00:06:02: Sophie: (Lacht) Da ist er wieder: unser Mops – Möpschen! (Lachen) Nee, worauf ich hinaus wollte, ist, dass es scheinbar unterschiedliche Vorstellungen davon gibt, was überhaupt “wissenschaftlich” ist bzw. was verlässliche Quellen sind. Ach ja, übrigens, da wir gerade schon darauf aufmerksam gemacht haben, dass Social-Media-Plattformen eine wichtige Möglichkeit für politischen Austausch bieten. Ich habe mir gedacht, dass wir uns das Themenfeld der digitalen Verhaltensdaten mal näher anschauen sollten. Und deshalb hab ich mal mit Katrin Weller gesprochen. Katrin ist Expertin im Bereich digitale Verhaltensdaten und leitet momentan die Abteilung Computational Social Sciences bei GESIS.

00:06:45: Lydia: Oh super! Denn digitale Verhaltensdaten gehören ja schon längst mit dazu, wenn man soziale Phänomene umfassend begreifen möchte. Schließlich gehört die digitale Welt ja auch schon längst mit zu unserer eigenen Realität.

00:06:57: Sophie: Du sagst es, Lydia. Also, zunächst habe ich Katrin gebeten, uns nochmal genau zu erläutern, was digitale Verhaltensdaten überhaupt sind.

00:07:07: Katrin Weller: Digitale Verhaltensdaten sind, ganz allgemein gesagt, erstmal solche Daten, die mit digitalen Technologien aufgezeichnet oder erfasst werden und die Einblicke in menschliches Verhalten oder in Meinungen liefern können. Das können zum Beispiel Sensoren sein. Also zum Beispiel in Car-Sharing-Fahrzeugen eingebaute Sensoren oder auch im Smartphone ganz normal der Sensor, der da verbaut ist, die dann Bewegungsmuster aufzeigen und so etwas über Verhalten sagen können. In einer Vielzahl der aktuellen Studien in dem Bereich geht es aber um digitale Verhaltensdaten aus Online-Plattformen. Also Nutzungsdaten aus verschiedenen Online-Umgebungen. Das geht dann vom Shopping-Portal über die Dating-Webseite bis hin zu den Kommunikationsplattformen. Also so was wie Twitter und Facebook oder Kommentarspalten bei Online-Zeitungsportalen. Und das sind, glaube ich, auch die, die für die Meinungserfassung die relevantesten sind.

00:08:11: Lydia: Ich denke, in unserem Fall sind die Social-Media-Kanäle auch die relevanten Kommunikationsplattformen.

00:08:17: Sophie: Klar, die sind für unsere Fragestellung nach der politischen Radikalisierung natürlich super interessant. Nach dem Gespräch, das du mit Matthias Sand in der letzten Folge geführt hast, hat mich aber erst einmal auch interessiert, was die Erforschung digitaler Verhaltensdaten, also auch die auf Social-Media-Plattformen, eigentlich leisten kann, was die klassische Umfrageforschung nicht kann. Und Katrin hat mir hier einen überzeugenden Überblick über die Vorteile der Forschung mit digitalen Verhaltensdaten gegeben.

00:08:47: Katrin Weller: Ja, ein großer Vorteil von digitalen Verhaltensdaten ist dann auch gerade das, dass man eben nicht an eine Forschungsfrage gebunden ist, sondern, dass man ein Abbild aus dem tatsächlichen Leben, aus den tatsächlichen Aktionen der Personen bekommt, die eben diese Technologien nutzen. Ein anderer großer Vorteil ist, dass man sehr kurzfristig agieren kann. Also man kann sehr kurzfristig Reaktionen auf aktuelle Ereignisse zum Beispiel erheben, aus Online-Kommunikationsportalen zum Beispiel. Wenn jetzt spontan irgendwo eine Protestbewegung startet oder auch eine Naturkatastrophe stattfindet, dann reagieren Personen in Online-Kommunikationsumgebungen da sehr schnell drauf und man kann diese Daten dann eben auch schnell erfassen und abrufen und muss nicht erst eine Befragung planen, die eben möglicherweise erst Monate später ins Feld geht. Man ist auch unabhängiger davon, wie sehr sich Leute daran erinnern, was sie eigentlich an einem bestimmten Zeitpunkt getan oder gedacht haben. Also man fragt eben nicht etwas und die Leute müssen dann nachdenken, “Wo war ich letzte Woche und wie fand ich das und das?“, sondern man erhebt die Daten eben anhand, ja, der tatsächlichen Aktionen zu dem Zeitpunkt, wo es eigentlich relevant ist.

00:09:59: Lydia: Das ist echt überzeugend und genau das, was uns bei unserer Recherche bisher ja eigentlich gefehlt hat. Gerade die schnelle Verfügbarkeit von... von Massen an (vermutlich meistens auch eher kostenfreien oder kostengünstigeren) Daten ist im Gegensatz zu langwierig geplanten und kostenintensiven Umfragen natürlich lukrativ.

00:10:19: Sophie: Das stimmt. Leider hat die schnelle Verfügbarkeit aber auch ihren Preis. Damit meine ich, dass man die Aussagekraft von digitalen Verhaltensdaten durchaus auch kritisch einordnen muss. Lass uns mal reinhören, welche kritischen Aspekte Katrin mir genannt hat.

00:10:33: Katrin Weller: Digitale Verhaltensdaten haben aber natürlich auch Nachteile. Man weiß zum Beispiel viel weniger, wer eigentlich erfasst wird, wen man da beobachtet, man hat nicht immer demografische Informationen, kann auch nicht so gut in bestimmten Plattformen danach filtern, welche Zielgruppe man jetzt eigentlich erfasst. Das ist ein großer Nachteil. Ein anderer Punkt ist, dass eigentlich das, was man messen kann, das, was man beobachten kann, auch sehr stark davon abhängt, auf welcher Plattform man jetzt eigentlich Nutzende beobachtet zum Beispiel. Also die Interaktionsmöglichkeiten, die Facebook vorgibt, zum Beispiel, beeinflussen auch, was die Leute damit eigentlich machen können. Plus, was man erwartet, wer einem eigentlich zuhört, das beeinflusst auch wieder, was man in bestimmten Plattformen öffentlich sagt. Und das kann eben auch eventuell das Bild verzerren, was man dann erfassen kann. Ja, und am Ende hat man noch den großen Bereich, dass eben nicht alles, was in irgendwelchen Plattformen passiert, auch abrufbar ist, was natürlich auch gut ist, was aber die Forschenden auch vor die Herausforderung stellt: Wie bekomme ich jetzt eigentlich die Daten, die für meine Forschungsfrage am geeignetsten wären? Welche Abstriche muss ich möglicherweise machen, weil ich nicht auf alles zugreifen kann? Das hat natürlich auch datenschutzrechtliche und andere forschungsethische Dimensionen, die hier ganz wichtig sind und die die Möglichkeiten einfach einschränken.

00:12:06: Lydia: Auch hier unterscheiden sich Umfragedaten von digitalen Verhaltensdaten. Spannend finde ich vor allem den letzten Punkt, den Katrin da aufgemacht hat: nämlich den des Datenschutzes und der ethischen Dimensionen. Bei Umfragen müssen die Teilnehmer ja aktiv eine Einverständniserklärung zur Teilnahme unterzeichnen und werden über den Umgang mit ihren Daten informiert. Natürlich muss man auch auf einen Agree-Button drücken, wenn man sich eine App runterlädt. Aber die dazugehörige Datenvereinbarung wird sich wohl kaum einer durchlesen – also ich mache das zumindest in der Regel nicht.

00:12:38: Sophie: Nee, ich auch nicht.

00:12:39: Lydia: Auch nicht? Ja, gut, dann sind wir schon mindestens zwei! (Lachen) Super Stichprobe, aber immerhin, N = 2, genau! Also, jemand jedenfalls, der sich nun bei Facebook angemeldet hat, der hat sicherlich nicht im Hinterkopf, dass seine Daten später für Forschungszwecke auch außerhalb von Facebook genutzt werden könnten bzw. ist da der Forschungszweck natürlich irgendwie viel unspezifischer. Wenn ich also der Teilnahme an einer Umfrage zu politischen Einstellungen zustimme, dann ist das eben – zumindest aus meiner Perspektive – was ganz anderes, als wenn meine politischen Meinungen aus meinem Online-Kommunikationsverhalten abgeleitet werden könnten, ohne dass ich mir dessen bewusst bin oder dem bewusst zugestimmt hätte. Ich hab‘ es ja auch nicht gelesen! (Lacht)

00:13:19: Sophie: (Lacht) Ja klar, da müssen die Forschenden auf jeden Fall aufpassen. Ich stelle es mir auch schwierig vor, hier klare Regelungen zu finden, aber die braucht man irgendwann schon. Ach übrigens, weil wir ja in der letzten Folge über die Repräsentativität von klassischen Umfragedaten und Statistiken gesprochen haben: Ich habe Katrin auch gefragt, wie es denn um die Repräsentatitivität (verhaspelt sich)... Re-prä-sen-ta-ti-vi-tät (lacht)...

00:13:44: Lydia: (Lacht) Das ist nicht so einfach...

00:13:45: Sophie: (Lacht) Ich üb‘ noch!

00:13:47: Lydia: (Lacht) Sehr gut!

00:13:48: Sophie: ... von digitalen Verhaltensdaten bestellt ist. Und da hat sie mir folgende Antwort gegeben:

00:13:53: Katrin Weller: Die Repräsentativität ist ganz schwer zu verallgemeinern. Das hängt im Grunde ganz stark davon ab, was aus dieser gesamten Bandbreite von digitalen Verhaltensdaten man sich anguckt. Und man müsste im Grunde pro Plattform oder pro Erhebungssensorik wissen: Wer nutzt das jetzt aktiv? Wie steht das im Verhältnis, zum Beispiel, zu einer Gesamtbevölkerung? Und da kommt dann auch wieder mit rein, dass das länderspezifische Unterschiede haben kann. Zum Beispiel ist die Nutzerschaft von Twitter in Deutschland anders zusammengesetzt als von Twitter in den USA.

00:14:31: Sophie: Ja, man sieht, wie bei den klassischen Datenerhebungen auch, geht es bei der Bewertung digitaler Verhaltensdaten auch um die Details. In diesem Fall sind das dann aber – geht es dann aber um eine genaue Kenntnis der Plattformen, die man untersucht, also um ihre Funktionalitäten, ihre User, soziodemografische Faktoren usw. Was mich im Gespräch mit Katrin besonders gefreut hat, war natürlich die Erkenntnis, dass wir auf einem guten Weg sind, Lydia, jetzt das Phänomen der politischen Radikalisierung zu packen. Endlich! (Lachen)

00:15:06: Lydia: (Lacht) Eine heiße Spur sozusagen?

00:15:08: Sophie: (Lacht) Genau! Der bin ich natürlich direkt gefolgt und hab‘ Katrin gefragt, ob man über digitale Verhaltensdaten Aussagen über politische Radikalisierung treffen kann. Und das hat sie auf jeden Fall befürwortet.

00:15:23: Katrin Weller: Meiner Meinung nach ist es ganz wichtig bei Themen wie politische Radikalisierung auch Social-Media-Daten zu berücksichtigen. Und da ist der entscheidende Faktor eben, dass Meinungsbildung und Meinungsäußerung in vielen Fällen ja ganz eng mit der Nutzung digitaler Medienangebote verknüpft ist.

00:15:42: Sophie: Politische Diskussionen finden eben mittlerweile ganz stark auf Online-Plattformen statt.

00:15:47: Lydia: Da sieht man mal wieder, wie wichtig es ist, nicht nur die gesellschaftlichen Entwicklungen in der analogen Welt zu erforschen, sondern eben auch das Verhalten der „User“ im digitalen Raum.

00:15:56: Sophie: Du sagst es. Katrin hat dann weiter ausgeführt, was man auf jeden Fall bei einer solchen Studie beachten müsste:

00:16:04: Katrin Weller: Meiner Meinung nach muss man da sich relativ breit aufstellen bestenfalls. Also eben nicht nur Facebook und Twitter, sondern möglicherweise auch etwas spezifischere Kanäle wie Telegram, zum Beispiel, mit in den Blick nehmen, weil eben bestimmte politische Diskussionen eher in bestimmten Plattformen stattfinden als in anderen und sich da eben auch die Communities etwas verteilen können, die man eigentlich beobachten will. Es ist eher nicht zu erwarten, dass man anhand dieser Daten am Ende sagen kann: Der Anteil der Bevölkerung in Deutschland, der sich radikalisiert hat, ist X. Also so ein Ergebnis wird man nicht erwarten können. Man bekommt aber sehr detaillierte Erkenntnisse darüber, was für Themen wie besprochen werden. Man kann im Zeitverlauf auch gucken, ob zum Beispiel bestimmte Themen immer stärker polarisierend betrachtet werden, zum Beispiel, ob es immer stärkere Lagerbildungen gibt, ob immer stärker aggressiveres Verhalten zu einem Thema an den Tag kommt.

00:17:10: Sophie: Und ein bisschen später betont Katrin noch:

00:17:14: Katrin Weller: Ja, und zu guter Letzt ganz wichtig ist eben auch, dass am Ende auch die plattforminternen Algorithmen eine Rolle spielen, die man zumindest im Hinterkopf behalten sollte.

00:17:25: Lydia: Oh man! Das ist gut, dass Katrin das noch mal erwähnt hat. Das vergisst man ja doch irgendwie allzu oft, wenn man diese Plattformen selbst nutzt. Aber natürlich bestimmt die Struktur der Plattform auch mit, in welche Diskussion man sich begibt.

00:17:38: Sophie: Moahh, das ist manchmal so nervig. Kennst du das, wenn man von seiner eigenen Timeline maximal gelangweilt ist, weil sich immer wieder die gleichen Meinungen wiederholen?

00:17:48: Lydia: Na klar, ja, man ist dann so gefangen in seiner, ja, in seiner eigenen Bubble, sozusagen, und man kommt da nicht wirklich raus. Aber viele fühlen sich sicherlich auch ganz wohl in dieser Bubble, oder?

00:17:59: Sophie: Blubb, blubb! (Lachen) Auf jeden Fall!

00:18:04: Lydia: Der Mops auf Unterwasser-Tour! (Lacht)

00:18:06: Sophie: Können sich alle gegenseitig auf die Schulter klopfen. Fast wie beim Stammtisch! Unterwasser-Stammtisch, „blubb, blubb“ halt! Und den Plattformbetreibern passt es auch ganz gut in den Kram, weil die machen das ja nicht umsonst. Mir war übrigens gar nicht so klar, was deren Interesse daran ist, aber da hat Katrin mir schnell auf die Sprünge geholfen und Folgendes gesagt:

00:18:26: Katrin Weller: Ich bin jetzt nicht auf dem aktuellsten Stand, was bei Facebook zum Beispiel gerade gemacht wird oder bei Twitter. Natürlich ist es aber so ein bisschen auch gegen deren Geschäftsmodell, was ja eigentlich darauf ausgelegt ist, „Ich will Leute so lange wie möglich in meiner Plattform halten. Ich will denen die Sachen zuspielen, die sie interessieren. Und je länger sie eben bei mir bleiben auf der Plattform, desto besser ist es für mich und mein Marketingmodell.“ Dementsprechend ist das eigentliche Plattforminteresse so ein bisschen gegenläufig zu dem Interesse, vielleicht möglichst diverse Informationen zur Verfügung zu stellen, die Leute auch mal in andere Richtungen zu schubsen und so weiter.

00:19:06: Sophie: Ja, mit ein bisschen Nachdenken hätte ich da ja auch selber drauf kommen können. (Lachen)

00:19:10: Lydia: Aber nichtsdestotrotz: Ihr habt ja in eurem Gespräch einiges klären können, liebe Sophie. Das ist ja schonmal total super! (Lacht)

00:19:18: Sophie: Ja, das war total informativ. Und es hat mich vor allen Dingen nochmal darin bestärkt, dass Daten aus dem Social-Media-Kontext uns wichtige Informationen zum Stand politischer Radikalisierung geben können. Also Lydy, pack die Lupe aus, die Fährte ist heiß!

00:19:33: Lydia: (Lacht) Sie ist gezückt! Das passt nämlich ganz gut, weil ich tatsächlich – während du dich mit Katrin ausgetauscht hast – mich schonmal auf die Fährte gemacht habe und tatsächlich eine Studie mit Social-Media-Daten gefunden habe. Und diese Studie heißt „Krise und Kontrollverlust: Digitaler Extremismus im Kontext der Corona-Pandemie“ vom Institute for Strategic Dialogue und wurde von Jakob Guhl und Lea Gerster durchgeführt. Und die beiden haben sich die Netzwerke und Narrative rechtsextremer, linksextremer und islamistisch-extremistischer Akteure im deutschsprachigen Raum untersucht – also Deutschland, Österreich, und der Schweiz – und das auf unterschiedlichen Social-Media-Kanälen wie Facebook, Twitter, YouTube, 4chan und Telegram sowie auf extremistischen Webseiten.

00:20:22: Sophie: Diese Studie ist ja in mehrfacher Hinsicht einschlägig für unser Thema. Also, zum einen ist sie ja mega aktuell...

00:20:29: Lydia: Ja, um genau zu sein, ist sie von Ende 2020 und untersucht den Zeitraum zwischen der Einführung der ersten Lockdown-Maßnahmen im März bis Ende September.

00:20:40: Sophie: Genau, und das ist ja überhaupt nicht selbstverständlich, dass gesicherte wissenschaftliche Daten so schnell zur Verfügung stehen. Zum anderen untersucht die Studie ausschließlich den digitalen Raum und vor allem genau die Plattformen, die Katrin vorhin schon angesprochen hat. Jackpot, würde ich sagen.

00:20:58: Lydia: (Lacht) Bing-bing-bing-bing-bing! Oder: Blubb-blubb-blubb-blubb?

00:21:03: Sophie: Leucht. (Lacht)

00:21:04: Lydia: Genau! Also das heißt, die politische Radikalisierung kann zunächst auch als digitales Phänomen erfasst werden – wie wir das ja vorhin auch schon angedeutet haben. Und laut dieser Studie konnten die Extremisten ihre Reichweite auf den Social-Media-Plattformen insgesamt um 14 % vergrößern. Allerdings verteilen sich diese 14 % nicht gleichmäßig auf alle drei Gruppen. Vor allem die Rechtsextremisten konnten – jetzt mal zynisch gesagt – mit einem Wachstum von 18 % als „Gewinner“ aus der Krise hervorgehen, während die Linksextremisten ihre Reichweite (also die Anzahl neuer Follower) um 10 % vergrößern konnten, und die islamistischen Extremisten nur um 6 %. Aber auch diese Angaben, also diese Prozentangaben, verteilen sich nicht gleichmäßig auf die unterschiedlichen Plattformen und Gruppierungen. Absurderweise hat zum Beispiel der größte Telegram-Kanal der QAnon-Bewegung einen Zulauf von 560 % in den ersten zwei Monaten...

00:22:03: Sophie: Boah!

00:22:04: Lydia: ... nach Einführung, ja, der Lockdown-Maßnahmen erhalten. F ü n f – h u n d e r t – s e c h z i g! Das muss man sich mal vorstellen!

00:22:11: Sophie: Boah, Wahnsinn! Was heißt das konkret in Zahlen? Also so: Erst war’s nur einer und dann waren sie 560?

00:22:19: Lydia: (Lacht) Naja, schön wär’s. Die Followerzahl hat sich von sage und schreibe 18.000 auf 120.000 Personen vergrößert. Krass, oder?

00:22:31: Sophie: Boah, allerdings! Und vor allem, wenn man sich vor Augen führt, wie abstrus dieser Verschwörungsmythos tatsächlich ist. Also die in der ISD-Studie genannten Zahlen finde ich nicht nur aufgrund ihrer Aussagekraft in Bezug auf die Messbarkeit des Radikalisierungsprozesses spannend. Ich finde vor allen Dingen auch, dass sie überdeutlich zeigen, dass die extremistischen Narrative sich überhaupt nicht verändert haben. Es ist ja keine wirklich neue Bewegung entstanden, oder so was. Und es sieht vielmehr so aus, dass die bereits lange existierenden extremistischen Gruppierungen die sozialen Probleme, die die Pandemie mit sich bringt, zu ihren eigenen Gunsten nutzen können und starken Zulauf erhalten.

00:23:18: Lydia: Ja, sorry – ich meine, jetzt habe ich dich zwar aussprechen lassen -, aber ich wollt‘ dir trotzdem nochmal kurz reingrätschen. Und zwar möchte ich ganz kurz was zur Begrifflichkeit im Verschwörungskontext sagen.

00:23:30: Sophie: Ja klar, Lydia, los! Ich kann dich ja sowieso nicht davon abhalten.

00:23:34: Lydia: (Lacht) Und das ist auch gut so! Du hast eben ja richtigerweise bereits von Verschwörungsmythen gesprochen. Denkbar wäre hier auch noch der Begriff des Verschwörungsglaubens. Üblicherweise wird aber oft von Verschwörungstheorien gesprochen (so wie ja auch in dieser Studie hier). Allerdings hat sich in der Forschung so langsam der Konsens herausgebildet, dass es sich dabei nicht um Theorien handelt, da ja die Merkmale fehlen, die typischerweise eine wissenschaftliche Theorie ausmachen. Und um deswegen dem Ganzen nicht fälschlicherweise Wissenschaftlichkeit zuzusprechen, wird der Begriff des Glaubens oder des Mythos bevorzugt.

00:24:11: Sophie: Ja, und zu Recht! Also, mit den wissenschaftlichen Theorien oder Fakten hat das bestimmt nichts mehr zu tun. Gut, dass du das nochmal erwähnt hast. (Lachen) Aber findest du nicht auch interessant, welche Wirkmacht diese Thesen plötzlich entfalten können? Also vorher waren die ja eher so marginalisiert – also sie waren da, aber jetzt nicht sooo wahnsinnig sichtbar. Und die digitale Welt ist hier ein richtiger Beschleuniger, finde ich. Wichtig ist mir, in dem Kontext auch zu erwähnen, dass es ja im digitalen Kosmos auch die traditionellen Gruppenzugehörigkeiten und auch die nationalen Grenzen, so wie wir sie kennen, nicht mehr gibt. Darauf wollte ich auch nochmal hinweisen, weil wir ja uns in der letzten Folge gewundert haben, dass bei den Querdenker-Demonstrationen so viele unterschiedliche Personenkreise zusammengekommen sind. Da wirkt die digitale Welt schon mit aller Wucht in unsere analoge Realität, wenn man so sagen will, rein.

00:25:10: Lydia: Da gibt‘s übrigens auch noch eine total schöne Grafik von der Weltgesundheitsorganisation in Anlehnung an den Slogan „Flatten the curve“ und zwar mit dem Titel „Flatten the infodemic curve“. Die Idee dahinter ist, dass wir täglich mit einer Flut an Informationen zu Covid-19 konfrontiert sind, dass aber nicht alle Informationen tatsächlich auch stimmen. Die WHO, also die Weltgesundheitsorganisation, bietet hier ein paar Tipps dazu, wie man Lüge und Wahrheit oder Spekulation und Fakt voneinander unterscheiden kann, um so die Verbreitung von Fehlinformationen, vor allem über Social-Media-Plattformen, zu verringern.

00:25:48: Sophie: Du sagst es, Lydia. Und in der Tat sollte jeder seinen Beitrag dazu leisten, finde ich, indem er nicht alles ungefiltert an diverse Gruppenchats weiterleitet. Merkmale, übrigens, wie man seriöse Quellen von unseriösen unterscheiden kann, die findet man ja mittlerweile schon auch an vielen anderen Stellen gut dokumentiert.

00:26:07: Lydia: Ach so, was mir da jetzt gerade noch einfällt, liebe Zuhörer und Zuhörerinnen: Wir haben auf unserer Seite podcast.gesis.org Zuz-... Zusatzmaterial (verhaspelt sich, lachen) für euch zusammengestellt, und zwar Infos zum Umf... Uf... uaahh (verhaspelt sich wieder) UFOs, Infos... boah, jetzt ist der Wurm drin! Also nochmal: Keine UFOs, sondern Infos zum Umgang mit Quellen haben wir für euch in diesem Material verlinkt. So, Punkt! Unabhängig jetzt davon: Ich hab‘ übrigens noch ein anderes cooles Phänomen in petto, liebe Sophie. Und zwar: Hast du schon mal vom „komparativen unrealistischen Optimismus“ gehört?

00:26:43: Sophie: (Lacht) Klingt erstmal sehr spannend, Lydia... Fast wie die UFOs! (Lachen)

00:26:50: Lydia: Ja, gut, also mit UFOs hat das jetzt nichts zu tun, aber nun gut. Das ist das Phänomen, dass man sein eigenes Risiko geringer einschätzt als das der anderen. Oh Gott, ja, ich muss auch noch an die UFOs denken, so ein Blödsinn! (Lachen) Also: Im Corona-Kontext wäre das zum Beispiel, dass man sich selbst den Besuch bei der Oma zwar zugesteht, weil man ja (in seiner eigenen Logik, irgendwie) ganz vorsichtig war und sich auch garantiert nicht angesteckt hat mit dem Virus, dem Nachbarn allerdings das nicht mehr zugesteht und ihm stattdessen Fahrlässigkeit unterstellt. Kennst du das? Das ist schon irgendwie so ein witziges Phänomen, wie ich finde, und was mir persönlich auch immer wieder im Alltag begegnet. Da klafft irgendwie die Bewertung der Gesellschafts- und der Individual-Ebene auseinander. Und das Ganze ist übrigens auch noch bekannt unter dem Begriff „optimistischer Fehlschluss“.

00:27:43: Sophie: Das Ganze gibt’s ja aber auch umgekehrt. Also man kann auch genau das Gegenteil feststellen. Wie zum Beispiel beim Thema Impfen und den vermeintlichen Gefahren, die damit für die eigene Gesundheit einhergehen. Oft wird ja das Risiko, einen Impfschaden zu erleiden, viel höher eingeschätzt als es tatsächlich ist.

00:27:59: Lydia: Genau. Ein „pessimistischer Fehlschluss“, also die Überschätzung des eigenen Risikos. Das kommt zwar vor, ist aber empirisch gesehen deutlich seltener.

00:28:08: Sophie: Ja, im Moment aber doch schon ziemlich ausgeprägt. Gerade im Impfkontext... UFO-Kontext wollte ich schon sagen, nein, im Impfkontext (lachen), haben wir auch nochmal nachgeschaut, weil das im Moment ja ein wichtiges Thema ist.

00:28:33: Lydia: Obwohl jetzt UFO und Impfen gar nicht so weit voneinander entfernt liegt, wenn man es sich mal genauer überlegt, aber nun gut (lacht). Also, zurück zum Thema: Im Jahr 2020 – um mal hier wieder etwas seriöser zu werden – gab es eine interessante Metaanalyse von 138 Studien mit insgesamt fast 23 ½ Millionen gegen Mumps-Masern-Röteln geimpften Kindern und die...

00:28:49: Sophie: Das sind sehr viele! (Lacht)

00:28:52: Lydia: Ja, genau! (Lacht) Und die hat gezeigt, dass das Risiko, einen Impfschaden zu erleiden, verschwindend gering ist. Jetzt bin ich zwar keine Medizinerin und tue mich wahrscheinlich ein bisschen schwer mit der Aussprache, nicht nur bei den UFOs (lachen), sondern auch der vorgekommenen Impfschäden, aber anscheinend liegt das Risiko, nach einer Mumps-Masern-Röteln-Impfung beispielsweise an einer ITP (also einer idiopathischen thrombozytopenischen Purpura – puh, jetzt hab ich es ja fast hingekriegt) zu erkranken, tatsächlich bei 1 zu 40.000. Und die Wahrscheinlichkeit, nach so einer Impfung daran zu erkranken, ist übrigens deutlich niedriger, als wenn man sich auf dem natürlichen Wege mit den Viren der Impfung infizieren würde.

00:29:39: Sophie: Kurz zur Erklärung, ITP ist eine Autoimmunkrankheit, die, grob vereinfacht gesagt, einen Mangel an Thrombozyten im Blut bezeichnet.

00:29:49: Lydia: (Lacht) Da hast du es dir jetzt leicht gemacht – du hast nur ITP gesagt!

00:29:54: Sophie: Ja, ich bin ja nicht doof! (Lacht)

00:29:55: Lydia: (Lacht) Eyeyeyeyey. Ja, wie alle anderen Studien haben wir übrigens auch diese hier wieder im Zusatzmaterial verlinkt, falls ihr da noch mehr wissen wollt.

00:30:07: Sophie: (Lacht) Ich wollte übrigens jetzt nicht sagen, dass du doof bist! Entschuldige!

00:30:13: Lydia: (Lacht) Gut, dass du das jetzt nochmal so betonst! Hätte ich eigentlich nicht so aufgefasst, aber jetzt denke ich nochmal drüber nach!

00:30:19: Sophie: (Lacht) Also nochmal, die Angst vor dem Impfen ist also ein klarer Fall eines pessimistischen Fehlschlusses, also einer Überhöhung des eigenen Risikoempfindens. Und zu Zeiten der Pandemie finde ich das keinen geringen Irrtum. Und das vor allen Dingen zu Ungunsten des sozialen Zusammenhalts – darauf möchte ich nochmal Wert legen, oder ja, das möchte ich nochmal betonen.

00:30:43: Lydia: (Lachen) Übrigens fällt mir hier auch der Begriff der „Faktenresistenz“ ein.

00:30:49: Sophie: Ja, ein sehr berechtigter Begriff. Allerdings bin ich auch überzeugt, dass hinter dieser Faktenresistenz, wie du es so schön nennst, schlussängstlich... äh, schlussendlich...

00:31:00: Lydia: (Lacht) Schlussängstlich! Das ist auch schön! Ja, was wolltest du sagen?

00:31:04: Sophie: ...schlussendlich ganz – ängstlich, ne? – ganz konkrete Ängste stehen. Wie ist das denn bei dir, Lydia? Wie steht‘s denn um deinen Gemütszustand (wo wir gerade so ein bisschen Wortfindungsstörungen haben)? Kennst du auch solche Ängste? Und wenn ja, was könnte deine Ängste denn vertreiben und was könnte dich glücklich machen? (Lacht)

00:31:28: Lydia: Ja also, das, wie sagst du so schön? Das „schlussängstliche“ Ende der baldigen Pandemie mit viel Champagnerregen und ganz viel Glitzer. (Lacht)

00:31:37: Sophie: Jaaa! (Lacht) Hört sich sehr gut an! Das wäre wirklich schön, aber leider auch ein bisschen unrealistisch. Wobei, immerhin der Teil mit dem Alkohol und dem Glitzer – das ließe sich ja realisieren.

00:31:50: Lydia: Yay!

00:31:51: Sophie: Aber mal im Ernst, hast du auch das Gefühl, dich so langsam ein bisschen aufzulösen?

00:31:57: Lydia: Du meinst jetzt vom Alkohol?

00:31:58: Sophie: (Lacht) Ja, das würde ich jetzt sehr gerne mit „ja“ antworten, aber tatsächlich kann ich überhaupt nichts mehr trinken im Moment, da würde ich wirklich völlig am Rad drehen!

00:32:08: Lydia: (Lacht) Du Glückliche! Du trinkst nicht mehr! Das habe ich mir auch schon ein paar Mal vorgenommen. Was Besseres kann einem ja eigentlich fast gar nichts zu Pandemiezeiten passieren, äh, fast gar nicht passieren. Aber für andere scheint es tatsächlich eine ganz gute Lösung zu sein. Zumindest zeigt das der Global Drug Survey. Demzufolge ist der Alkoholkonsum während der Pandemie hochgegangen und zwar aus den unterschiedlichsten Gründen. Bei einigen, weil sie einfach mehr Zeit hatten, bei anderen, weil sie sich gelangweilt haben. Für andere hat sich das Alkoholtrinken auch einfach als Bewältigungsstrategie erwiesen, um sich die Situation quasi „schön zu trinken“ und um mit ihr klarzukommen. Das kennt ja der ein oder andere durchaus auch aus einem anderen Kontext (lacht).

00:32:49: Sophie: (Lacht) Ja, so ganz nach dem Motto „Kein Alkohol ist auch keine Lösung“? Aber mal im Ernst, die Pandemie hat ja nicht nur Einfluss auf meine persönliche emotionale Verfasstheit, oder auf deine. Dies wirkt sich auch auf die psychosoziale Gesundheit ganz breiter Teile der Bevölkerung aus.

00:33:05: Lydia: Ja, also mittlerweile beschreiben ja einige Studien die psychosozialen Folgen der Quarantänemaßnahmen. Und darunter fallen unter anderem häufiger auftretende Depressivität sowie gesteigerte Ängstlichkeit, Wut, Stress, soziale Isolation...

00:33:23: Sophie: Genau, da sind wir wieder bei der Angst. Und weil du es hier jetzt auch gerade nochmal angesprochen hast: Mich würde ja mal interessieren, um welche Ängste es sich hier konkret handelt. Und wie diese Ängste eine gewisse Skepsis auslösen bzw. politische Radikalisierung begünstigen können, um mal wieder zum Thema zu kommen.

00:33:43: Lydia: Also, zu den Ängsten zählen sicherlich die Angst vor der Ansteckung mit dem Virus, und die Angst vor der sozialen Vereinsamung...

00:33:52: Sophie: Total ernst nehme ich übrigens auch die Angst vor dem Verlust der finanziellen Lebensgrundlage und auch den langfristigen wirtschaftlichen Folgen. So zeigt zum Beispiel die Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung (die Studie ist vom November 2020), dass 53 % der Kurzarbeitenden sich mit Existenzsorgen quälen. Wenn man das vor diesem Hintergrund sieht, bekommt man schon nochmal einen anderen Blick auf die individuelle Empfänglichkeit für – ich sage mal aus unserer Sicht – irrationale Überzeugungen, also wie zum Beispiel die Verschwörungsmythen.

00:34:30: Lydia: Welche Auswirkungen dieses Klema – Kl... Hab‘ ich eben „Klema“ gesagt? Also, welche Auswirkungen dieses Thema oder dieses Klima auf die politischen Radikalisierungstendenzen hat, beschreibt übrigens der emeritierte Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Uni Kassel: Ernst-Dieter Lantermann.

00:34:48: Sophie: Genau! Den Ansatz von Lantermann finde ich auch super spannend. Also der hat ja bereits 2016 in seinem Buch „Die radikalisierte Gesellschaft. Von der Logik des Fanatismus“ diese Tendenzen beschrieben – also das ist nichts Neues. In einem Interview im November 2020 bei „Journal am Mittag“ im SWR 2 hat er dann aber seine Thesen nochmal im Hinblick auf die beschleunigte politische Radikalisierung in der Pandemie zugespitzt.

00:35:15: Lydia: Genau. Und in dem Interview bezeichnet er die Corona-Pandemie explizit als einen Beschleuniger für diese Tendenzen, die man aber auch schon vor der Corona-Krise beobachten konnte. Und zwar am Rande der Gesellschaft, aber nun zunehmend auch in der Mitte.

00:35:29: Sophie: Er hat also vor allen Dingen zwei Aspekte genannt, die ich super wichtig finde, um die Motivationen zu verstehen, die hinter einer Radikalisierungstendenz stehen...

00:35:41: Lydia: Sprichst du es jetzt extra langsam aus? (Lacht)

00:35:44: Sophie: Ich üb‘ noch! (Lacht) Also, das eine ist allgemein die Veränderung des politischen Diskurses in unserer Gesellschaft allgemein. Und hier beobachtet Lantermann, dass die demokratische Streitkultur, die ja wichtige Kommunikationskompetenzen voraussetzt – ich sag mal zum Beispiel Kompromissfähigkeit, Zuhören, Toleranz – also dass die abnimmt und dass sie durch eine emotionalisierte Art der Auseinandersetzung abgelöst wird. Und das führt, nach Lantermann, zu einer „misstrauischen Wachsamkeit“, die seiner Meinung nach leicht in Gewalt umschlagen kann.

00:36:22: Lydia: Diese emotionalisierte Diskussionskultur oder auch emotionale Dauererregung, also das sogenannte „heiße Denken“, ist mittlerweile ja fast der Normalzustand auf sozialen Plattformen wie Twitter geworden.

00:36:34: Sophie: Ja, auf jeden Fall.

00:36:35: Lydia: Sprich, ja, sprich, kurzfristiges Schwarz-Weiß-Denken, bei dem es nicht um Gegner, sondern um Feinde geht. Kenne ich persönlich ja noch aus meiner Teenie-Zeit... (lacht)

00:36:46: Sophie: (Lacht) Also alle wieder zurück auf 15! Ja, also, jetzt zu der zweiten grundlegenden Motivation für politische Radikalisierung, die Lantermann nennt. Das sind eben genau die Ängste, von denen wir vorhin gerade gesprochen haben. Also vor allen Dingen sicherheitsorientierte Menschen – Lantermann hat diesen schönen Begriff der „erschöpften Wertenostalgiker“ gebracht – die finden sich in dem extrem beschleunigten gesellschaftlichen Wandel nicht mehr repräsentiert. Und das weder im privaten Bereich noch im politischen Kontext. Und das führt in diesen Gruppen eben zu einer großen Verunsicherung.

00:37:27: Lydia: Und wie wir wissen, brauchen Menschen Sicherheit, um eine stabile Identität zu entwickeln.

00:37:32: Sophie: Genau. Und in dem Kontext fordert Lantermann auch ein, dass man für den Menschen, der hier seine Sicherheit verloren hat, auch Respekt haben sollte. Also, was jetzt nicht heißt, dass man seine Handlungen gutheißen muss. Im Übrigen gehört zu dem Bedürfnis nach Sicherheit auch das Bedürfnis, eine gewisse Handlungsfähigkeit zu haben. Also wenn diese beiden Bedürfnisse – nach Sicherheit und das nach Handlungsfähigkeit – nicht befriedigt werden, dann suchen wir Menschen uns eben unsere eigenen Sicherheiten. Und das nicht immer mit intelligenten Lösungen... Also, dass das nicht immer mit intelligenten Lösungen einhergehen muss, das zeigt ja zum Beispiel auch ein Blick in unsere Geschichte.

00:38:12: Lydia: Da passt jetzt übrigens auch gut der Kommentar von Carolin Emcke aus dem Tagesanzeiger der Schweiz vom 31. Januar 2021. Dort nimmt sie Bezug auf das Buch von Leo Löwenthal mit dem Titel „Falsche Propheten – Studien zur faschistischen Agitation“. Darin analysiert er die Techniken und Methoden amerikanischer Agitatoren in den 40er Jahren anhand ihrer Reden, Flugblätter und Pamphlete. Laut Löwenthal haben sich die Agitatoren nicht für die reale Ungerechtigkeit und die ökonomischen Nöte der Menschen interessiert, sondern es ging ihnen vielmehr darum, Ängste und Affekte hoch zu puschen und in die von ihnen gewünschte Richtung zu kanalisieren, also: gegen „die“ Juden, gegen „die“ Flüchtlinge oder eben gegen „die“ Medien. Emcke sieht dort klar Parallelen zur Gegenwart.

00:39:02: Sophie: Wow, auf jeden Fall. Und das ist 80 Jahre alt und hört sich doch schon ziemlich vertraut an in der aktuellen Situation. Richtig gef... also, richtig gut gefällt mir hier auch Emckes Ausdruck der „geschichtsvergessenen Antidemokraten“. Was ich aber auch finde: Dass Löwenthal sehr nachvollziehbar macht, wie bei der Radikalisierung der rationale Diskurs verlassen wird und es nur noch um die emotionale Verfasstheit geht. Also dieser Trick, wenn man‘s so nennen möchte, ermöglicht es ja erst, die Menschen zu manipulieren. Und da geht‘s überhaupt nicht mehr um Argumente, sondern nur noch um Sicherheitsversprechen.

00:39:41: Lydia: Ich habe mir übrigens auch mal die Zeit genommen, die Kommentare anzugucken und durchzulesen, die unter Emckes Artikel stehen. Die sind teilweise schon krass. Und natürlich muss man auch immer im Hinterkopf behalten, dass tendenziell eher diejenigen das Verlangen haben so was zu kommentieren, die die Gegenmeinung vertreten – das ist jetzt auch interessant gerade im Kontext unserer digitalen Verhaltensdaten –, aber dennoch. Emcke wird vor allem Einseitigkeit in ihrer Betrachtung vorgeworfen und dass sie linksradikale Gewalt ausblende und sich nur auf rechtsgerichtete Gewalt bezöge.

00:40:13: Sophie: Ja, genau. Erstmal ist ja gegen diese Kommentare nix einzuwenden. Es ist ja irgendwie schon richtig, dass sich historisch der Linksextremismus keinesfalls mit Ruhm bekleckert hat oder irgendwie viel besser dastünde als der Rechtsextremismus oder jetzt neuerdings auch der Islamismus. Deshalb haben wir natürlich auch hier nochmal in die Statistik geschaut. Wobei, auch schon die Studie des ISD, die wir vorhin zitiert haben, belegt ja schon, dass die aktuelle Radikalisierungstendenz vor allen Dingen von Rechtsnationalen bestimmt wird.

00:40:49: Lydia: Wir wären natürlich nicht „Die Fakten dicke!“, hätten wir das nicht noch mal gegengecheckt. Also: In den Daten des Bundeskriminalamts zu politisch motivierter Kriminalität von 2010 bis 2019 zeigt sich ganz deutlich, dass mehr Fälle rechts zugeordnet werden können als links. Nur um dir – und euch, liebe Zuhörer und Zuhörerinnen – mal so eine Idee zu geben: 2019 waren es 9.849 Fälle, also rund 10.000, die dem linken Spektrum zuzuordnen sind, und 22.342 Fälle, also knapp 22.000, die dem rechten Spektrum zuzuschreiben sind. Das heißt also mehr als doppelt so viele Fälle kommen aus dem rechten Lager.

00:41:32: Sophie: Und das ist ja schon sehr viel! Aber jetzt, auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, aber das fasziniert mich einfach, wie Agitation funktioniert. Also wie schlussendlich eine Lösung der faktischen Probleme, die die Menschen ja haben (wie wir gerade auch schon aufgezeigt haben), wie die einfach umgangen wird, indem man nur das Gefühl der Unsicherheit bedient und einem wahllos irgendein Sicherheitsversprechen gibt. Das muss ja nicht mal irgendeinen Sinn ergeben, wie wir ja zum Beispiel an den Verschwörungsmythen sehen können. Und dass vor allem alle Menschen, unabhängig vom Bildungshintergrund oder der Einkommensschicht, davon affiziert werden können, das zeigt für mich, wieviel Macht man über diesen emotional existentiellen Hebel auf Menschen ausüben kann.

00:42:18: Lydia: Auch wenn Lantermann vom zu entgegenbringenden Respekt gegenüber verunsicherten sozialen Gruppen spricht, so schreibt Emcke ihren Kommentar nicht umsonst mit dem Titel „Bitte nicht weichzeichnen“.

00:42:32: Sophie: Also, Respekt vor den Nöten der Menschen, aber kein Pardon für gefährdendes Agitieren und Verhalten?

00:42:40: Lydia: Genau. Also, Coronas Mob zuhören, aber: Wenn er kotzt, dann trotzen.

00:42:47: Sophie: Genau! (Lacht) Also, in diesem Sinne, bestes Schlusswort! Vielen Dank für’s Zuhören und Mitdenken! Lasst euch verführen von Fakten und nicht von unwissenschaftlichen Verschwörungsmythen oder anderen ollen Kamellen.

00:43:03: Lydia: Genau. Schaut vor allem auch mal in unser Zusatzmaterial, das wir auf podcast.gesis.org für euch hinterlegt haben. Da ist alles noch mal leicht verständlich als PDF-Präsentation aufbereitet und zusammengefasst, von dieser Folge, aber auch von der letzten.

00:43:18: Sophie: Und außerdem findet ihr da auch Links zu weiterführendem Material und zu den Quellen der Studien, die wir hier erwähnen. Und als absoluter Bonus auch noch ein interaktives Transkript zur Folge. Tschüss!

00:43:30: Lydia: Ihr findet uns auf iTunes, Spotify und allen anderen gängigen Plattformen. Also, bis zur nächsten Folge, liebe Faktenfreunde! Wir bedanken uns bei euch für‘s Zuhören, bei Linna Umme für die Unterstützung bei der Recherche und natürlich bei Claudia O’Donovan-Bellante für die technische Produktion und die einfach schönste Sprecherinnenstimme der Welt.

00:43:51: Claudia: Oh, vielen Dank, Lydia, für das Kompliment! Ja, dann hätte ich hier noch was für euch... ottos mops (von Ernst Jandel) ottos mops trotzt otto: fort mops fort ottos mops hopst fort otto: soso otto holt koks otto holt obst otto horcht otto: mops mops otto hofft ottos mops klopft otto: komm mops komm ottos mops kommt ottos mops kotzt otto: ogottogott

00:44:41: Lydia: Und mit diesem Wissen müsstet ihr die und die letzte Folge jetzt eigentlich gleich noch mal hören. In diesem Sinne: „Corona: Oh Gott, oh Gott.“